Donnerstag, 26. Februar 2015

Verstümmelt



Wenn man mit offenen Ohren durch die Schullandschaft lustwandelt, fliegen einem viele Sprachfetzen um die Ohren. Im Lehrerzimmer geht das gar nicht anders, weil die Pausen so kurz sind, dass meistens gar nicht die Zeit für ganze Sätze hat. Ganz im Gegenteil, Lehrerzimmer- bzw. Pausengespräche hören aufgrund einer berlinweit durchgeführten Studie zu 83 % mitten im Satz auf, weil mitten im Gespräch ein Kollege in den jeweiligen Dialog hineingrätscht. Sätze wie „Kannst du mir nur ganz kurz sagen, ob du deine Klasse teilst oder nicht ...“ oder „Denkst du daran, dass Lara und Alina heute zur SV sind ...“ hat Herr Krüger schon oft gehört, aber auch selbst gesagt.
Obwohl die Schüler nur sehr selten und dann auch nur kurz im Lehrerzimmer sind und sich längst nicht so hetzen lassen wie Lehrer, haben auch sie sich eine Sprache angewöhnt, die an Vollständigkeit eingebüßt hat. Dies wird Herrn Krüger wieder einmal deutlich, als er einen vollen Acht-Stunden-Tag hat, also etwa 120 Schüler unterrichten muss und zusätzlich noch in seiner Pausenaufsicht etliche andere Schüler trifft.
In der ersten Stunde arbeiten die Schüler mehr oder weniger engagiert an einer thematischen Karte. Die Aufgaben stehen mit wohl überlegten Formulierungen auf den Arbeitsblättern. Und dennoch – als Herr Krüger nach einem kleinen Rundgang wieder seinen Lehrertisch ansteuert, trifft ihn von hinten ein „Herr Krüger, sollen wir auch drei?“ Herr Krüger wartet, aber es kommt nichts mehr. Er dreht sich um und zieht verständnislos die Schultern hoch. „Sollen wir auch Aufgabe drei machen?“ wiederholt sich Jennifer dieses Mal mit mehr Mühe. „Ach sooo“, simuliert Herr Krüger ein spätes Verstehen, „das meinst du. Ja, natürlich sollt ihr.“ Ein weiterer verkümmerter Satz von Jennys Nachbarin Annelie erreicht Herrn Krügers Trommelfell: „Können wir den Atlas?“ Auch hier reagiert Herr Krüger nicht gleich, in der stillen Hoffnung, dass Annelie den Satz noch vervollständigt. Pustekuchen. Da kommt nichts mehr. Herr Krüger macht ein Gesicht wie Oliver Hardy und hat Erfolg. „Dürfen wir den Atlas benutzen?“ „Selbstverständlich“ lächelt Herr Krüger demonstrativ zufrieden.
In seiner zweiten Lerngruppe, eine siebte Klasse, die Herr Krüger in Bio unterrichtet, erlebt er kaum eine andere Sprachvollständigkeit. „Müssen wir beide, Herr Krüger?“ fragt Annika. „... Augen benutzen? Ja, Annika, du musst keins zuhalten, falls du das fragen wolltest.“ „Maaaan, sie wissen doch, was ich meine.“ Erstaunlich, philosophiert Herr Krüger innerlich weiter, wenn es darum geht, Schlüsselbegriffe zu markieren, tun sich die Kids bis in die Oberstufe sooo schwer. Wenn es aber darum geht, Sätze zu formulieren, gelingt es ihnen, Varianten zu finden, die – sinngemäß – jede Menge Beispiele für Minimalismus hervorbringen.

Die Pausenaufsicht verspricht einen Moment zum Luftholen, denkt sich Herr Krüger, hat aber nicht damit gerechnet, dass der Jahrgangsraum in der Mittagspause geöffnet ist. Und so kommt sich Herr Krüger wie ein Türsteher vor, der in seinem Job auch nicht besonders viel Sprachgehalt erleben dürfte. „In den Jahrgangsraum“ bringt ein Achtklässler mit Mühe hervor und will passieren. Aber Herr Krüger hält ihm einen Arm in den Weg. „Dein Satz unvollständig!“ erwidert Herr Krüger nach einem sprachlichen Sturzflug. „Hä?“ „Mann, du sollst anständig sprechen“, hilft Kristin dem Achtklässler dabei, Herrn Krüger zu verstehen, da sie ihn schon länger kennt. „Ich will Jahrgangsraum.“ Wieder hilft Kristin: „Können wir beide bitte in den Jahrgangsraum gehen, Herr Krüger?“
Herr Krüger entdeckt ein weiteres Phänomen: Wenn Schüler verstümmelt reden, fällt es kaum jemandem auf. Wenn aber Lehrer es ihren Schülern gleichtun, werden sie entrüstet angeguckt, wie sie es wagen können, schlechte Sprache zu sprechen. Fast das Gleiche erlebt Herr Krüger immer mal wieder, wenn sich in seine Arbeitsblätter mal ein Fehler einschleicht, ob ein Buchstabendreher oder einer, der z. B. am Wortende fehlt. Häufig wurde er bis zu einem halben Dutzend Mal darauf hingewiesen: „Herr Krüger, hier fehlt ein ‚n‘!“ Im Gegenzug dazu scheinen die Schüler ihre eigenen, um ein Vielfaches häufigeren Fehler komplett auszuklammern. Was für eine verkehrte Welt.
Wie Herr Krüger der Verstümmelung der deutschen Sprache entgegenwirken kann, weiß er noch nicht. Aber den Kampf hat er noch lange nicht aufgegeben!

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