Erste Schüler drücken sich in der
einen oder anderen Ecke des Schulgeländes herum, als Herr Krüger sich Richtung
Neubau bewegt.
In seiner Klasse angekommen, lässt
er seinen Rucksack auf einen Stuhl fallen und beginnt, sich zu sortieren, den
PC anzuwerfen, sein Passwort einzugeben und sich langsam, aber sicher an den
Gedanken zu gewöhnen, dass gleich wieder eine Horde Kinder, wenn auch zumindest
in den ersten zwei Stunden noch müde Kinder, den Raum bevölkern werden.
Noch sind ungefähr 20 Minuten
Zeit, als ein Schüler aus der Achten den Raum betritt: „Herr Krüger ... guten
Morgen ... „ Herr Krüger drehte sich zu ihm, es ist Nils, der offenbar direkt
zu ihm gekommen und noch nicht im Klassenraum war, denn er trägt seinen
Rucksack auf dem Rücken, die Mütze auf dem Kopf und ... ist das da ein
Ohrstöpselkabel, was da zwischen Schal, Jacke und Mütze herausguckt? Tatsächlich!
Immerhin, einen Stöpsel hat Nils schon aus dem Ohr plöppen lassen, aber der
andere wärmt sein Ohr noch immer von innen. Herr Krüger ist zwar noch nicht
ganz groß in Fahrt, dennoch aber schon flink genug, um ein lautloses „Guten
Morgen“ zu erwidern, das Nils jedoch nur an Herrn Krügers Lippen ablesen kann.
Da er Herrn Krüger aber schon gut kennt, weiß er sofort, worauf dieser hinauswill
und entkorkt auch sein zweites Ohr, sodass Herr Krüger jetzt offen für Nils und
seine Fragen ist.
Herrn Krüger lassen die
Ohrstöpsel aus irgendeinem Grund die nächsten Tage nicht mehr los. Ihm fällt auf,
wie viele Schüler an dieser Schule einseitig versiegelt durch den Schulalltag
steuern – zumindest durch die Pausen. Inwiefern sich das bis in die einzelnen
Stunden ausdehnt, weiß er freilich nicht. Dennoch grübelt Herr Krüger auf all
seinen Wegen, während der Aufsichten und auf dem Schulweg nach Hause über die möglichen
Ursachen dieser Verkabelung nach.
Sind diese kleinen
Schaumstoffgnubbel wirklich nur verkleinerte Kopfhörer, mit denen die
Jugendlichen Musik hören? Und wenn ja, warum? Früher gab’s das nicht, auch
nicht zu Walkman-Zeiten; auch in der Grundschule sieht man so etwas nicht; in
den siebten Klassen ... na ja, zumindest in der ersten Zeit auch nicht. Aber
dann! Kaum sind Siebtklässler ein paar Wochen an der neuen Schule, sprießen die
Ohrstöpselkabel wie Pilzhyphen aus den T-Shirts, Sweat-Shirts und Jacken und
münden wie deren Fruchtkörper in der Ohrmuschel der Halbstarken.
Vielleicht – so mutmaßt Herr
Krüger – halten sie es einfach nicht aus in der Stille, sind mit drei bis fünf
Inputs gleichzeitig aufgewachsen und kennen aufgrund der Multimedialandschaft
des städtischen Alltags keine Ruhephasen mehr, nicht einmal mehr aus
Ferienzeiten.
Vielleicht ist es aber auch ganz
anders und eine böse Ahnung beschleicht Herrn Krüger. Vielleicht leiden all
diese Kabelkinder unter Monophobie. Mangels Erfahrung, in der einen oder
anderen Problemsituation auf sich alleine gestellt zu sein, gelingt es ihnen
nicht, irgendwelche Situationen alleine zu meistern. Und von solchen Problemsituationen
sind sie ja jederzeit umgeben, auch in
der Schule: Ein Gespräch mit dem Klassenlehrer, dem eine geschwänzte Stunde zu
beichten ist ... alleine überstehen? Niemals. Da kommt die Modewelle der
Ohrstöpsel gerade Recht, denn so kann man jederzeit mit anderen verkabelt sein
– erst Recht zu Zeiten des allgegenwärtigen Handys. Nur – wer ist da immer am
anderen Ende der Leitung und mimt den Therapeuten? Eltern bzw. Erwachsene? Eher
nicht. Schließlich sind sie oft der Auslöser zahlreicher Probleme. Dann vielleicht
ein älterer Kumpel oder Freund? Ja, klar, jemand aus einer höheren Klasse, der
im Zweifelsfalle einen Erfahrungsrat geben kann. Nur müssen die dann ja alles
auch immer mithören. Ob die das tun?
Jede Security ist heutzutage
verkabelt, um im Zweifelsfalls Verstärkung zu rufen, warum sollte dieses System
also nicht auch zu den Schülern durchgedrungen sein? Schließlich kann eine
Situation auch in der Schule eskalieren, z. B. wenn ein Lehrer nicht auf
den Schüler hört und eine nachgereichte Hausaufgabe nicht akzeptiert.
Vielleicht auch dann, wenn er es wagt nachzufragen, weshalb ein Schüler zu spät
kommt. Also Gründe finden die Schüler bestimmt immer.
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