Dienstag, 17. Februar 2015

Monophobie

Es ist Montagmorgen. Herr Krüger hatte ein wunderbares Wochenende und es fast bis zur letzten Minute ausgekostet, ist also spät ins Bett gekommen, sodass er die Woche ausgesprochen müde beginnt. Dennoch schält er sich so rechtzeitig aus der Bettdecke und macht sich fertig, dass er schon um 07.20 Uhr in der Schule ist, um nicht gleich wieder in die Hektik geschubst zu werden, sondern den Tag und die Woche ruhig angehen zu können. Er kopiert, leert sein Fach und trottet – den Rucksack entgegen dem Rat des Orthopäden über die eine Schulter geworfen – übers Schulgelände.

Erste Schüler drücken sich in der einen oder anderen Ecke des Schulgeländes herum, als Herr Krüger sich Richtung Neubau bewegt.

In seiner Klasse angekommen, lässt er seinen Rucksack auf einen Stuhl fallen und beginnt, sich zu sortieren, den PC anzuwerfen, sein Passwort einzugeben und sich langsam, aber sicher an den Gedanken zu gewöhnen, dass gleich wieder eine Horde Kinder, wenn auch zumindest in den ersten zwei Stunden noch müde Kinder, den Raum bevölkern werden.



Noch sind ungefähr 20 Minuten Zeit, als ein Schüler aus der Achten den Raum betritt: „Herr Krüger ... guten Morgen ... „ Herr Krüger drehte sich zu ihm, es ist Nils, der offenbar direkt zu ihm gekommen und noch nicht im Klassenraum war, denn er trägt seinen Rucksack auf dem Rücken, die Mütze auf dem Kopf und ... ist das da ein Ohrstöpselkabel, was da zwischen Schal, Jacke und Mütze herausguckt? Tatsächlich! Immerhin, einen Stöpsel hat Nils schon aus dem Ohr plöppen lassen, aber der andere wärmt sein Ohr noch immer von innen. Herr Krüger ist zwar noch nicht ganz groß in Fahrt, dennoch aber schon flink genug, um ein lautloses „Guten Morgen“ zu erwidern, das Nils jedoch nur an Herrn Krügers Lippen ablesen kann. Da er Herrn Krüger aber schon gut kennt, weiß er sofort, worauf dieser hinauswill und entkorkt auch sein zweites Ohr, sodass Herr Krüger jetzt offen für Nils und seine Fragen ist.



Herrn Krüger lassen die Ohrstöpsel aus irgendeinem Grund die nächsten Tage nicht mehr los. Ihm fällt auf, wie viele Schüler an dieser Schule einseitig versiegelt durch den Schulalltag steuern – zumindest durch die Pausen. Inwiefern sich das bis in die einzelnen Stunden ausdehnt, weiß er freilich nicht. Dennoch grübelt Herr Krüger auf all seinen Wegen, während der Aufsichten und auf dem Schulweg nach Hause über die möglichen Ursachen dieser Verkabelung nach.

Sind diese kleinen Schaumstoffgnubbel wirklich nur verkleinerte Kopfhörer, mit denen die Jugendlichen Musik hören? Und wenn ja, warum? Früher gab’s das nicht, auch nicht zu Walkman-Zeiten; auch in der Grundschule sieht man so etwas nicht; in den siebten Klassen ... na ja, zumindest in der ersten Zeit auch nicht. Aber dann! Kaum sind Siebtklässler ein paar Wochen an der neuen Schule, sprießen die Ohrstöpselkabel wie Pilzhyphen aus den T-Shirts, Sweat-Shirts und Jacken und münden wie deren Fruchtkörper in der Ohrmuschel der Halbstarken.

Vielleicht – so mutmaßt Herr Krüger – halten sie es einfach nicht aus in der Stille, sind mit drei bis fünf Inputs gleichzeitig aufgewachsen und kennen aufgrund der Multimedialandschaft des städtischen Alltags keine Ruhephasen mehr, nicht einmal mehr aus Ferienzeiten.

Vielleicht ist es aber auch ganz anders und eine böse Ahnung beschleicht Herrn Krüger. Vielleicht leiden all diese Kabelkinder unter Monophobie. Mangels Erfahrung, in der einen oder anderen Problemsituation auf sich alleine gestellt zu sein, gelingt es ihnen nicht, irgendwelche Situationen alleine zu meistern. Und von solchen Problemsituationen sind  sie ja jederzeit umgeben, auch in der Schule: Ein Gespräch mit dem Klassenlehrer, dem eine geschwänzte Stunde zu beichten ist ... alleine überstehen? Niemals. Da kommt die Modewelle der Ohrstöpsel gerade Recht, denn so kann man jederzeit mit anderen verkabelt sein – erst Recht zu Zeiten des allgegenwärtigen Handys. Nur – wer ist da immer am anderen Ende der Leitung und mimt den Therapeuten? Eltern bzw. Erwachsene? Eher nicht. Schließlich sind sie oft der Auslöser zahlreicher Probleme. Dann vielleicht ein älterer Kumpel oder Freund? Ja, klar, jemand aus einer höheren Klasse, der im Zweifelsfalle einen Erfahrungsrat geben kann. Nur müssen die dann ja alles auch immer mithören. Ob die das tun?

Jede Security ist heutzutage verkabelt, um im Zweifelsfalls Verstärkung zu rufen, warum sollte dieses System also nicht auch zu den Schülern durchgedrungen sein? Schließlich kann eine Situation auch in der Schule eskalieren, z. B. wenn ein Lehrer nicht auf den Schüler hört und eine nachgereichte Hausaufgabe nicht akzeptiert. Vielleicht auch dann, wenn er es wagt nachzufragen, weshalb ein Schüler zu spät kommt. Also Gründe finden die Schüler bestimmt immer.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen