Mittwoch, 18. Februar 2015

Schülertypen

Vertretungsstunden können so oder so laufen, diese Erfahrung macht Herr Krüger immer wieder. Manchmal werden es brillante Sternstunden, manchmal aber auch Stunden der Ewigkeit. Welche Faktoren dabei eine Rolle spielen, ist schwer zu sagen und im Zweifelsfalle sowieso nicht allgemeingültig. Allerdings hat sich herausgestellt, dass ein Klassenverband in solchen Situationen weitaus schwieriger zu unterrichten ist als eine Lerngruppe, die sich aus Schülern mehrerer Klassen zusammensetzt.

Diese Erfahrung wurde Herrn Krüger zuteil, als er die 9b vertreten musste. Nachdem die Schüler, aber auch Herr Krüger den ersten Kontakt aufgenommen hatten, bestand unmittelbar zu Stundenbeginn noch eine gewisse Spannung, zumal die Kids nicht wussten, was sie erwartet. Nach der Begrüßung jedoch begann das übliche Dauerkommentieren durch die Schüler. „Da ich kein Physiklehrer bin ...“ – schon hörte Herr Krüger die ersten Tuscheleien unter den Tischnachbarn – „ich aber immer wieder feststelle, dass die sprachliche Qualität bei Schülern in eurem Alter noch sehr geschult werden muss, habe ich mir für die Stunde heute eine Deutschaufgabe überlegt, für die ihr Papier und Stift braucht.“ Tumult. Nicht eskalierend, aber Tumult. Klar, so unglaubliche Sachen wie Papier und Stift müssen doch erst einmal kommentiert werden, warum auch immer. Schade, denkt sich Herr Krüger. Wobei - es wäre doch mal spannend, alle Kommentare in einer Situation aufzunehmen, in der nur Arbeitsmaterial auf dem Tisch bereit gelegt werden soll ... Immer wieder ist er verblüfft, was es dann schon alles zu reden gibt.

„Zunächst brauche ich bitte zehn Begriffe von euch, die nicht zu alltäglich sind und möglichst wenig miteinander zu tun haben.“ Keiner meldet sich und Herr Krüger beobachtet die Klasse. Dabei fallen ihm die vier Grazien auf, die bereits unmittelbar nach dem Betreten des Raumes aufgefallen sind. Vicky bedient alle Klischees, die man von einem weiblichen Teenager in ihrem Alter erwarten kann. Sie hat lange Haare, ist viel zu viel und dann leider auch noch schlecht geschminkt, hat eine große Handtasche, die mit dem halben Douglas-Sortiment ausgestattet und anderes, unterrichtsfernes Material beschwert ist sowie ein loses Mundwerk.

Ihre drei Nachbarinnen stehen ihr in diesen Merkmalen kaum nach. Während Herr Krüger auf die zehn Begriffe wartet und ihn die beängstigende Vermutung beschleicht, dass diese Klasse Nomen, Adjektive und Verben nicht unterscheiden, geschweige denn Begriffe nennen kann, die wenig miteinander zu tun haben, nutzt Vicky die Gelegenheit erst einmal Hand und Nägel zu pflegen. Sie holt eine Tube Creme aus den Katakomben ihrer Handtasche, die sie – wie Oma in der Bahn – auf ihrem Schoß platziert hat. „Willst du auch was?“ bietet sie Jasmina ihre Creme an. „Klar!“ Auch Elise kann man wenige Sekunden später in Gesellschaft ihrer drei Freundinnen die Hände kreisen sehen. „Braucht sonst noch jemand Handcreme in der Klasse?“ ermahnt Herr Krüger mit der gehörigen Portion Ironie zwischen den Zeilen. „Ja, ich ...“ meldet sich wahrhaftig eine Schülerin aus den hinteren Reihen ...

Vicky ist aber noch nicht fertig mit der Schönheitspflege, denn im nächsten Moment zückt sie einen kleinen Handspiegel aus ihrer Tasche, guckt hinein und murmelt vermutlich „wer ist die Schönste im ganzen Land?“

Mit Müh und Not sowie viel, viel Geduld entlockt Herr Krüger zähfließend zehn Begriffe aus fünf der insgesamt 28 Köpfe.  

„Ihr sollt jetzt aus fünf Begriffen eine Geschichte schreiben, in der jedes Wort mindestens einmal ...“ seine Stimme verschwindet im erneuten Stimmengewirr von Bemerkungen, Kommentaren und unreflektiert entlassenen Gedanken. Ein letztes Mal bäumt sich Herr Krüger auf, ruft laut in die Klasse und es gelingt ihm, letzte Instruktionen zu geben, bevor es die nächsten Bemerkungen hagelt und seine Stimme übertönt wird. Und dennoch – nach vielen ‚Pschts‘, individuellen Ermahnungen und ganzen zehn Minuten gelingt es Herrn Krüger doch noch, so viel Ruhe in die Klasse zu bekommen, dass fast alle ihre Geschichte schreiben.

Endlich kann Herr Krüger die Klasse mal ein bisschen detaillierter abchecken und stellt fest, dass es bestimmte Typen von Schülern gibt:

Die vier Grazien aus Reihe eins hatten sich ja bereits hervorgetan, schrieben jetzt aber auch, sodass Herr Krüger endlich auch einmal die anderen Mädchen wahrnimmt: da, auf der rechten Seite das brave Pendant zu den Miezen da drüben, fällt Herrn Krüger auf. Sie schreiben eifrig und konzentrieren sich auf die gestellte Aufgabe. Lehrer lieben diese Sorte von Schülerinnen, zumal sie auch noch eine wundervoll lesbare Handschrift haben.

Auch dahinter ist es sehr ruhig und Herr Krüger nimmt jetzt erst die beiden Jungen einer weiteren Sorge wahr, die dort sitzen. Jungs, die sehr aufmerksam, aber total schüchtern sind und innerhalb der Klassengemeinschaft eher Randfiguren sind. Leider erkennt man dies viel zu schnell an ihren fettigen Haaren und einem wenig spektakulären Klamottenstil.

Rechts davon gibt es einen von der nächsten Sorte Schüler: vermeintlich cool, ziemlich überheblich und arrogant. Weil er sich sowieso cooler als jeder Lehrer wahrnimmt, aber offenbar mit einem immensen Geltungsbedürfnis beschenkt wurde, trägt er seine Jeans so tief, dass man seine Boxershorts kaum noch als Unterhose, sondern eher als der Jeans gleichgestellte Hose bezeichnen müsste.

Erneutes Quatschen zieht Herrn Krügers Aufmerksamkeit auf die andere Seite. Dort sitzen in der letzten Reihe noch zwei Jungs, die „nicht Fisch, nicht Fleisch“ sind. Sie sind grundsätzlich folgsam, erledigen auch ihre Aufgaben, lieben es aber ungemein, zu zweit miteinander zu quatschen. Auf Ermahnungen reagieren sie sofort. Die gehen immer noch, denkt Herr Krüger.

Ein bisschen Rache muss sein, findet Herr Krüger, und so sucht er sich einige der Schülerinnen und Schüler raus, die besonders auffällig und nervig waren und fordert sie auf, ihre Geschichten vor der Klasse vorzutragen.

Unter Murren und Knurren ziehen die benannten Schüler nach vorne. In diesem Augenblick bietet sich Herrn Krüger ein Beispiel einer interessanten perspektivischen Betrachtung: Während die Schüler nach vorne gehen, werden sie klein und kleiner, bis man sie kaum noch sieht – ganz so, als würden sie sich innerhalb eines 3-D-Bildes zwischen den einzelnen Ebenen bewegen. Ob das den Kunstlehrern bewusst ist ... mit der Perspektive und so? Herr Krüger schmunzelt.

Erstaunlicherweise bleibt die Klasse relativ diszipliniert, als die einzelnen Geschichten vorgelesen werden, die mal mehr, mal weniger originell geschrieben sind. Zum Teil applaudierte die Klasse auch. Warum auch nicht, schließlich schlummert zum Teil erhebliches Potential in den Kids, das sie nur oft nicht erkennen. 
Von diesem Potential überzeugt sich auch Herr Krüger, als er sich nach der Stunde die geschriebenen Geschichten geben lässt. Nur Vicky hat ihre sofort zerknüllt. Warum wohl?

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