Vertretungsstunden können so oder
so laufen, diese Erfahrung macht Herr Krüger immer wieder. Manchmal werden es
brillante Sternstunden, manchmal aber auch Stunden der Ewigkeit. Welche
Faktoren dabei eine Rolle spielen, ist schwer zu sagen und im Zweifelsfalle
sowieso nicht allgemeingültig. Allerdings hat sich herausgestellt, dass ein
Klassenverband in solchen Situationen weitaus schwieriger zu unterrichten ist
als eine Lerngruppe, die sich aus Schülern mehrerer Klassen zusammensetzt.
Diese Erfahrung wurde Herrn
Krüger zuteil, als er die 9b vertreten musste. Nachdem die Schüler, aber auch
Herr Krüger den ersten Kontakt aufgenommen hatten, bestand unmittelbar zu
Stundenbeginn noch eine gewisse Spannung, zumal die Kids nicht wussten, was sie
erwartet. Nach der Begrüßung jedoch begann das übliche Dauerkommentieren durch
die Schüler. „Da ich kein Physiklehrer bin ...“ – schon hörte Herr Krüger die ersten
Tuscheleien unter den Tischnachbarn – „ich aber immer wieder feststelle, dass
die sprachliche Qualität bei Schülern in eurem Alter noch sehr geschult werden
muss, habe ich mir für die Stunde heute eine Deutschaufgabe überlegt, für die
ihr Papier und Stift braucht.“ Tumult. Nicht eskalierend, aber Tumult. Klar, so
unglaubliche Sachen wie Papier und Stift müssen doch erst einmal kommentiert
werden, warum auch immer. Schade, denkt sich Herr Krüger. Wobei - es wäre doch
mal spannend, alle Kommentare in einer Situation aufzunehmen, in der nur
Arbeitsmaterial auf dem Tisch bereit gelegt werden soll ... Immer wieder ist er
verblüfft, was es dann schon alles zu reden gibt.
„Zunächst brauche ich bitte zehn
Begriffe von euch, die nicht zu alltäglich sind und möglichst wenig miteinander
zu tun haben.“ Keiner meldet sich und Herr Krüger beobachtet die Klasse. Dabei
fallen ihm die vier Grazien auf, die bereits unmittelbar nach dem Betreten des
Raumes aufgefallen sind. Vicky bedient alle Klischees, die man von einem
weiblichen Teenager in ihrem Alter erwarten kann. Sie hat lange Haare, ist viel
zu viel und dann leider auch noch schlecht geschminkt, hat eine große
Handtasche, die mit dem halben Douglas-Sortiment ausgestattet und anderes,
unterrichtsfernes Material beschwert ist sowie ein loses Mundwerk.
Ihre drei Nachbarinnen stehen ihr
in diesen Merkmalen kaum nach. Während Herr Krüger auf die zehn Begriffe wartet
und ihn die beängstigende Vermutung beschleicht, dass diese Klasse Nomen,
Adjektive und Verben nicht unterscheiden, geschweige denn Begriffe nennen kann,
die wenig miteinander zu tun haben, nutzt Vicky die Gelegenheit erst einmal
Hand und Nägel zu pflegen. Sie holt eine Tube Creme aus den Katakomben ihrer
Handtasche, die sie – wie Oma in der Bahn – auf ihrem Schoß platziert hat.
„Willst du auch was?“ bietet sie Jasmina ihre Creme an. „Klar!“ Auch Elise kann
man wenige Sekunden später in Gesellschaft ihrer drei Freundinnen die Hände
kreisen sehen. „Braucht sonst noch jemand Handcreme in der Klasse?“ ermahnt
Herr Krüger mit der gehörigen Portion Ironie zwischen den Zeilen. „Ja, ich ...“
meldet sich wahrhaftig eine Schülerin aus den hinteren Reihen ...
Vicky ist aber noch nicht fertig
mit der Schönheitspflege, denn im nächsten Moment zückt sie einen kleinen
Handspiegel aus ihrer Tasche, guckt hinein und murmelt vermutlich „wer ist die
Schönste im ganzen Land?“
Mit Müh und Not sowie viel, viel
Geduld entlockt Herr Krüger zähfließend zehn Begriffe aus fünf der insgesamt 28
Köpfe.
„Ihr sollt jetzt aus fünf
Begriffen eine Geschichte schreiben, in der jedes Wort mindestens einmal ...“
seine Stimme verschwindet im erneuten Stimmengewirr von Bemerkungen,
Kommentaren und unreflektiert entlassenen Gedanken. Ein letztes Mal bäumt sich
Herr Krüger auf, ruft laut in die Klasse und es gelingt ihm, letzte Instruktionen
zu geben, bevor es die nächsten Bemerkungen hagelt und seine Stimme übertönt
wird. Und dennoch – nach vielen ‚Pschts‘, individuellen Ermahnungen und ganzen
zehn Minuten gelingt es Herrn Krüger doch noch, so viel Ruhe in die Klasse zu
bekommen, dass fast alle ihre Geschichte schreiben.
Endlich kann Herr Krüger die
Klasse mal ein bisschen detaillierter abchecken und stellt fest, dass es bestimmte
Typen von Schülern gibt:
Die vier Grazien aus Reihe eins
hatten sich ja bereits hervorgetan, schrieben jetzt aber auch, sodass Herr
Krüger endlich auch einmal die anderen Mädchen wahrnimmt: da, auf der rechten
Seite das brave Pendant zu den Miezen da drüben, fällt Herrn Krüger auf. Sie
schreiben eifrig und konzentrieren sich auf die gestellte Aufgabe. Lehrer
lieben diese Sorte von Schülerinnen, zumal sie auch noch eine wundervoll
lesbare Handschrift haben.
Auch dahinter ist es sehr ruhig
und Herr Krüger nimmt jetzt erst die beiden Jungen einer weiteren Sorge wahr,
die dort sitzen. Jungs, die sehr aufmerksam, aber total schüchtern sind und innerhalb
der Klassengemeinschaft eher Randfiguren sind. Leider erkennt man dies viel zu schnell
an ihren fettigen Haaren und einem wenig spektakulären Klamottenstil.
Rechts davon gibt es einen von
der nächsten Sorte Schüler: vermeintlich cool, ziemlich überheblich und
arrogant. Weil er sich sowieso cooler als jeder Lehrer wahrnimmt, aber offenbar
mit einem immensen Geltungsbedürfnis beschenkt wurde, trägt er seine Jeans so
tief, dass man seine Boxershorts kaum noch als Unterhose, sondern eher als der
Jeans gleichgestellte Hose bezeichnen müsste.
Erneutes Quatschen zieht Herrn
Krügers Aufmerksamkeit auf die andere Seite. Dort sitzen in der letzten Reihe noch
zwei Jungs, die „nicht Fisch, nicht Fleisch“ sind. Sie sind grundsätzlich folgsam,
erledigen auch ihre Aufgaben, lieben es aber ungemein, zu zweit miteinander zu
quatschen. Auf Ermahnungen reagieren sie sofort. Die gehen immer noch, denkt
Herr Krüger.
Ein bisschen Rache muss
sein, findet Herr Krüger, und so sucht er sich einige der Schülerinnen und
Schüler raus, die besonders auffällig und nervig waren und fordert sie auf,
ihre Geschichten vor der Klasse vorzutragen.
Unter Murren und Knurren ziehen
die benannten Schüler nach vorne. In diesem Augenblick bietet sich Herrn Krüger
ein Beispiel einer interessanten perspektivischen Betrachtung: Während die
Schüler nach vorne gehen, werden sie klein und kleiner, bis man sie kaum noch
sieht – ganz so, als würden sie sich innerhalb eines 3-D-Bildes zwischen den
einzelnen Ebenen bewegen. Ob das den Kunstlehrern bewusst ist ... mit der
Perspektive und so? Herr Krüger schmunzelt.
Erstaunlicherweise bleibt die
Klasse relativ diszipliniert, als die einzelnen Geschichten vorgelesen werden, die mal mehr, mal weniger originell geschrieben sind. Zum Teil applaudierte die Klasse auch. Warum
auch nicht, schließlich schlummert zum Teil erhebliches Potential in den Kids, das sie nur oft nicht erkennen.
Von diesem Potential überzeugt sich auch Herr Krüger, als er sich nach der Stunde die geschriebenen Geschichten geben
lässt. Nur Vicky hat ihre sofort zerknüllt. Warum wohl?
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