Donnerstag, 26. Februar 2015

Verstümmelt



Wenn man mit offenen Ohren durch die Schullandschaft lustwandelt, fliegen einem viele Sprachfetzen um die Ohren. Im Lehrerzimmer geht das gar nicht anders, weil die Pausen so kurz sind, dass meistens gar nicht die Zeit für ganze Sätze hat. Ganz im Gegenteil, Lehrerzimmer- bzw. Pausengespräche hören aufgrund einer berlinweit durchgeführten Studie zu 83 % mitten im Satz auf, weil mitten im Gespräch ein Kollege in den jeweiligen Dialog hineingrätscht. Sätze wie „Kannst du mir nur ganz kurz sagen, ob du deine Klasse teilst oder nicht ...“ oder „Denkst du daran, dass Lara und Alina heute zur SV sind ...“ hat Herr Krüger schon oft gehört, aber auch selbst gesagt.
Obwohl die Schüler nur sehr selten und dann auch nur kurz im Lehrerzimmer sind und sich längst nicht so hetzen lassen wie Lehrer, haben auch sie sich eine Sprache angewöhnt, die an Vollständigkeit eingebüßt hat. Dies wird Herrn Krüger wieder einmal deutlich, als er einen vollen Acht-Stunden-Tag hat, also etwa 120 Schüler unterrichten muss und zusätzlich noch in seiner Pausenaufsicht etliche andere Schüler trifft.
In der ersten Stunde arbeiten die Schüler mehr oder weniger engagiert an einer thematischen Karte. Die Aufgaben stehen mit wohl überlegten Formulierungen auf den Arbeitsblättern. Und dennoch – als Herr Krüger nach einem kleinen Rundgang wieder seinen Lehrertisch ansteuert, trifft ihn von hinten ein „Herr Krüger, sollen wir auch drei?“ Herr Krüger wartet, aber es kommt nichts mehr. Er dreht sich um und zieht verständnislos die Schultern hoch. „Sollen wir auch Aufgabe drei machen?“ wiederholt sich Jennifer dieses Mal mit mehr Mühe. „Ach sooo“, simuliert Herr Krüger ein spätes Verstehen, „das meinst du. Ja, natürlich sollt ihr.“ Ein weiterer verkümmerter Satz von Jennys Nachbarin Annelie erreicht Herrn Krügers Trommelfell: „Können wir den Atlas?“ Auch hier reagiert Herr Krüger nicht gleich, in der stillen Hoffnung, dass Annelie den Satz noch vervollständigt. Pustekuchen. Da kommt nichts mehr. Herr Krüger macht ein Gesicht wie Oliver Hardy und hat Erfolg. „Dürfen wir den Atlas benutzen?“ „Selbstverständlich“ lächelt Herr Krüger demonstrativ zufrieden.
In seiner zweiten Lerngruppe, eine siebte Klasse, die Herr Krüger in Bio unterrichtet, erlebt er kaum eine andere Sprachvollständigkeit. „Müssen wir beide, Herr Krüger?“ fragt Annika. „... Augen benutzen? Ja, Annika, du musst keins zuhalten, falls du das fragen wolltest.“ „Maaaan, sie wissen doch, was ich meine.“ Erstaunlich, philosophiert Herr Krüger innerlich weiter, wenn es darum geht, Schlüsselbegriffe zu markieren, tun sich die Kids bis in die Oberstufe sooo schwer. Wenn es aber darum geht, Sätze zu formulieren, gelingt es ihnen, Varianten zu finden, die – sinngemäß – jede Menge Beispiele für Minimalismus hervorbringen.

Die Pausenaufsicht verspricht einen Moment zum Luftholen, denkt sich Herr Krüger, hat aber nicht damit gerechnet, dass der Jahrgangsraum in der Mittagspause geöffnet ist. Und so kommt sich Herr Krüger wie ein Türsteher vor, der in seinem Job auch nicht besonders viel Sprachgehalt erleben dürfte. „In den Jahrgangsraum“ bringt ein Achtklässler mit Mühe hervor und will passieren. Aber Herr Krüger hält ihm einen Arm in den Weg. „Dein Satz unvollständig!“ erwidert Herr Krüger nach einem sprachlichen Sturzflug. „Hä?“ „Mann, du sollst anständig sprechen“, hilft Kristin dem Achtklässler dabei, Herrn Krüger zu verstehen, da sie ihn schon länger kennt. „Ich will Jahrgangsraum.“ Wieder hilft Kristin: „Können wir beide bitte in den Jahrgangsraum gehen, Herr Krüger?“
Herr Krüger entdeckt ein weiteres Phänomen: Wenn Schüler verstümmelt reden, fällt es kaum jemandem auf. Wenn aber Lehrer es ihren Schülern gleichtun, werden sie entrüstet angeguckt, wie sie es wagen können, schlechte Sprache zu sprechen. Fast das Gleiche erlebt Herr Krüger immer mal wieder, wenn sich in seine Arbeitsblätter mal ein Fehler einschleicht, ob ein Buchstabendreher oder einer, der z. B. am Wortende fehlt. Häufig wurde er bis zu einem halben Dutzend Mal darauf hingewiesen: „Herr Krüger, hier fehlt ein ‚n‘!“ Im Gegenzug dazu scheinen die Schüler ihre eigenen, um ein Vielfaches häufigeren Fehler komplett auszuklammern. Was für eine verkehrte Welt.
Wie Herr Krüger der Verstümmelung der deutschen Sprache entgegenwirken kann, weiß er noch nicht. Aber den Kampf hat er noch lange nicht aufgegeben!

Montag, 23. Februar 2015

Detektei Schule


„Herr Krüger?“ „Ja, Frau Schwarz, was gibt’s?“ „Ich muss Sie mal sprechen.“ Worum geht’s denn?“ Herr Krüger ist gespannt, da Frau Schwarz Mitglied der Schulleitung ist und wenn die Schulleitung ein Anliegen hat, dann muss es schon etwas Wichtiges sein.

Herr Krüger folgt Frau Schwarz also in ihr Büro und wundert sich beim Betreten des Raumes etwas, denn an der Tür steht ein Schild ‚Bitte nicht stören! Laufende Ermittlungen!‘ Was ist denn da passiert? Herr Krüger nimmt gespannt Platz. „Leider gab es einen Diebstahl, dessen Täter aus Ihrer Klasse kommt!“ „Na toll ... weiß man mehr darüber?“ Frau Schwarz zieht eine Akte aus ihrem Schrank und öffnet sie. Bisher liegt nicht viel darin, aber Frau Schwarz umreißt kurz den Tathergang. „Es wäre schön, Herr Krüger, wenn Sie bitte gemeinsam mit den Klassenlehrern der übrigen Klassen, deren Schüler beteiligt waren, zusammen die Ermittlungen aufnehmen würden. Der Tatort ist zu besichtigen, die Zeugen zu befragen und der Tathergang zu kombinieren.“ „Alles klar, ich kümmere mich darum, Frau Schwarz. Wissen Sie, ob der Ermittlungsraum schon komplett eingerichtet ist nach dem Umzug?“ „Ja, ist alles erledigt.“ Sie drückt ihm Schlüssel und Akte in die Hand. Herr Krüger seufzt einmal tief und macht sich auf den Weg zu Raum 007. 
Der Raum ist renoviert und ganz neu eingerichtet worden. Die Zahl der Ermittlungsfälle hat zugenommen, so dass der Schulleiter diesen Raum neu installiert hat. Dieses frisch gestrichene Büro steht also fortan für solche Ermittlungsfälle zur Verfügung. Es ist so gut ausgestattet, dass manch Lehrer gerne dort zu tun haben wird, selbst wenn er es im Moment noch nicht weiß. Der Raum wurde noch nie aktiv benutzt. Doch heute. Herr Krüger dreht den Schlüssel im Schloss herum und bleibt erst einmal interessiert stehen.


Nicht schlecht, denkt er so bei sich. Die Schulleitung hat sich echt Mühe gegeben. Na ja, nicht ohne Grund, schließlich gibt es seit einigen Jahren immer mehr solcher Fälle, die einer präzisen Aufklärung bedürfen. Der Raum verfügt über drei Schreibtische, von denen zwei am Fenster und einer an der linken Wand über Eck steht. Zwei Aktenschränke bieten genügend Raum für Papierkram und Beweisstückaufbewahrung. Gleich rechts neben der Tür gibt es einen weiteren Tisch, der für Untersuchungen aller Art genügend Platz und auch Werkzeug bietet: Zwei Lupen, Stempelkissen für die Fingerabdrücke, ein kleiner Satz Chemikalien für die einfacheren Untersuchungen und ein dickes Nachschlagewerk ‚200 Standard-Fälle an Oberschulen‘. Auf der linken Seite direkt neben der Tür steht eine kleine Garderobe, an der sogar ein karierter Mantel hängt – soll wohl ein Motivationsaccessoire sein für Kollegen, denen die Erstmotivation fehlt. Herr Krüger scheint seit der Einrichtung des Raumes der erste zu sein, der ihn nutzt und kann es nicht lassen, Sherlocks Mantel einmal überzuziehen. Ist ja doch schon ein aufregendes Gefühl, wenn man den Mantel so trägt ...
Mehrere Watsons finden sich ein, Frau Schwarz hat anscheinend auch die anderen Klassenlehrer erreicht und so finden sich Frau Bachmann, Frau Kracht und Frau Walberg ein. „Na dann, meine Damen und Herren Watson“, beginnt Herr Krüger, „wollen wir mal. Welche Informationen können Sie denn zur Klärung des Falles beitragen? Ich weiß bisher, dass Marco aus meiner Klasse 30 € gestohlen haben soll, die in einer Geldbörse gewesen sein sollen. Aus Ihren Klassen gab es zum Teil Zeugen bzw. das Opfer. Haben Sie von einem der Beteiligten nähere Informationen?“ Frau Kracht, aus deren Klasse der Schüler kommt, der sein Portemonnaie verloren hat berichtet kurz über ihre Rechercheergebnisse: „Marco hat sich das Geld einfach aus dem Portemonnaie genommen, obwohl ein Schülerausweis darin war, wie zwei Zeugen gesehen haben.“ „Dominik war wohl auch beteiligt, er ist ja aus meiner Klasse und war gestern offenbar mit Marco auf Beutezug. Aber ob er auch was mit dem Diebstahl zu tun hat oder nur mit dabei war, also Mittäter war, kann ich bisher noch nicht sagen.“ „Gut, dann sollten wir vielleicht erstmal die Beweisaufnahme antreten und uns den Tatort ansehen.“ Frau Walberg schnappt sich den eigens für die SpuSi angeschafften Koffer mit Fotoapparat, Flatterband und vier weißen Overalls, die sich die Kollegen überziehen. Was ist das denn? ‚SEK-SpuSi‘ steht auf der Rückenseite der Overalls und in ganz kleinen Buchstaben darunter ‚Sekundarstufe – Spurensicherung‘. Lustige Idee, stellen die vier fest, als sie zum Tatort, der nahegelegenen Bushaltestelle, laufen. Dort läuft das übliche Procedere ab, Flatterband, Fotos, Detailuntersuchungen, Sichern von potentiellen Beweisstücken. Als die vier den Tatort wieder freigeben und das Schultor durchschreiten, gucken sich einige Schüler nach ihnen um. Klar, in den weißen Overalls fällt man auf. Die vier Kollegen amüsieren sich natürlich über die Blicke der Schüler, die sicherlich daher so besonders erstaunt gucken, weil die Anzüge noch ganz neu sind.

Zurück im Ermittlungsraum lädt Herr Krüger die Bilder auf den PC, während Frau Kracht mit den anderen beiden Watsons den Bericht zu schreiben beginnt. „Wir können heute aber nur den Fall eröffnen, die Zeugenaussagen brauchen bestimmt `ne Woche“, meldet Frau Walberg mitten beim Schreiben. „Das denke ich auch“, antwortet Herr Krüger. „Ich denke, wir können auch dann erst das Strafmaß verhängen, wenn alle Zeugen verhört wurden.“

Nach zwei Stunden verlassen die vier das Ermittlungsbüro und unterhalten sich auf dem Weg ins Lehrerzimmer über den ersten Einsatz auf Sherlocks Spuren. „Also, Herr Schmidt hat sich echt viel Mühe gegeben bei der Ausstattung des Ermittlungsraumes, dann macht’s auch echt mehr Spaß. Trotzdem: Eigentlich wurden wir doch als Lehrer eingestellt ...

Sonntag, 22. Februar 2015

Sie hätten ja ...

Nur vier der sechzehn Oberstufenschüler sind anwesend, als Herr Krüger seinen Unterricht beginnen will. „Wo sind denn die anderen“, fragt er die vier Schülerinnen, die unmittelbar vor ihm sitzen und es ein bisschen zu genießen scheinen. „Heute Morgen waren die noch alle da, wahrscheinlich sind sie nur im falschen Raum.“ „Nun, dann ist das so, das soll aber nicht zu Ihrem Nachteil sein, dann unterrichte ich SIE eben alleine und wir werden sehen, ob noch jemand kommt.
Mit einer kurzen Wiederholung beginnt Herr Krüger die vier Pünktlichen wieder aufs Thema einzustimmen, als drei Minuten später die Tür aufgeht und Mike ein gänzlich überraschendes „ach, hier sind Sie“ als Fanfare für vier weitere Grundkursler in den Raum ruft – ungeachtet der Wiederholung, die gerade stattfindet. „Vielen Dank für die Unterbrechung, wir haben bereits angefangen, Mike.“ „Ja, wir haben vor Raum K03 auf Sie gewartet, konnte ja keiner ahnen, dass wir wieder hier sind. „Guten Morgen, Keiner,“ wendet sich Herr Krüger den vier Schülerinnen aus Reihe eins zu, „guten Morgen, Niemand, schön, dass Sie pünktlich waren!“ Die Wiederholung ist noch nicht ganz zu Ende, sodass Herr Krüger den Wiederholungsfaden wieder aufhebt und Kira ihre Wiederholung fortsetzen lässt. Kaum hat Kira drei bis vier Sätze gesprochen, springt die Tür erneut auf und das nächste Oberstufen-Quartett betritt den Raum: „Endlich finden wir Sie, wir haben schon überall gesucht ...“ hört man sie ihren Auftritt kommentieren, als sie wie eine Viererbobmannschaft aufgereiht auf ihre Plätze zusteuern und den übrigen Mitschülern erst einmal kurz berichten, wo sie waren, dass sie gewartet hätten usw. Pierre ruft ungeniert einen der letzten fehlenden Mitschüler an, um Bescheid zu sagen. Herr Krüger legt sein Kinn gespielt entspannt in die offene Handfläche und wartet. „Haben Sie sich jetzt alles erzählt, was Sie erlebt haben oder sollen wir noch einen kleinen Morgenkreis abhalten – wie an der Grundschule?“ provoziert Herr Krüger. „Nein, geht schon“, antwortet ein Schüler ganz ernsthaft, „Sie hätten nur sagen sollen, dass wir hier sind.“ „Das hat er doch letzte Stunde gemacht, ihr Hirbel, ab sofort haben wir immer hier Unterricht“ zitiert Alicia Herrn Krüger. „Ja, aber das war Mittwoch. Sie hätten aber sagen sollen, dass das für beide Tage gilt.“ „Mann, mischt sich Mariam ein, „Herr Krüger hat es sogar ins ‚lern-net‘ gestellt. Da steht, dass der Grundkurs ab sofort hier stattfindet. Ab sofort bedeutet ab sofort, raffst du das nicht?“

Der Dialog endet nur, weil sich die Tür ein weiteres Mal öffnet und das letzte Quartett den Raum betritt. „Schön dass wir nach einer knappen viertel Stunde schon vollzählig sind, jetzt muss es umso schneller gehen. Nehmen Sie bitte Ihre begonnenen Plakate aus der letzten Stunde vor!“ „Das hätten Sie ansagen müssen, dass wir die mitbringen müssen. Ich habe meins zu Hause vergessen“, tönt es irgendwo aus der Herrenriege. „So“, fragt Herr Krüger rhetorisch, „hätte ich ...? Verstehe. Dann fangen Sie jetzt wenigstens an, wenn ich schon Ersatzpapier besorgen muss!“ „Sie hätten ja gleich ein paar Blätter mitbringen können, dann müssten sie jetzt nicht ...“ „Fangen Sie an, Mike!!“

Als Herr Krüger mit dem Ersatzpapier wieder den Raum betritt, sieht er Pierre, der genüsslich beide Beine auf einen der freien Stühle gelegt hat – offenbar seine Wohnzimmerfernsehhaltung. „Pierre, halten Sie es in Ihrem Alter für angemessen ...“ „Sie hätten ja die übrigen Stühle wegstellen können, wenn es Sie so stört, dass ich so dasitze.“ Herr Krüger schüttelt fast unmerklich den Kopf und hilft den pünktlichen Mädels aus der ersten Reihe, die sich als einzige ernsthaft mit der Stundenfrage ‚Welche Faktoren führen zur Verschmutzung der Ostsee?‘ zu beschäftigen scheinen, als sich Lukas meldet und auch sofort losspricht: „Herr Krüger, auf die Frage zwei gibt es gar keine richtige Antwort im Text, da hätten sie ja mal einen besseren aussuchen können!?“

Zum Glück ist es die letzte Stunde, die Herr Krüger an diesem Tag gibt. Eine weitere hätte er vielleicht an diesem Tage nicht überlebt. Als er seine Sachen zusammengepackt hat und das Lehrerzimmer ansteuert denkt er so bei sich: „Hätte, hätte, hätte! Hätte ich mich mal heute Morgen besser krankgemeldet!

Freitag, 20. Februar 2015

Noch ein Liebesbrief



Neue Woche, neuer Unterrichtsstoff, neue Überraschungen. Herr Krüger hat endlich wieder in seiner Klasse Unterricht. Durch seine Fächerkombination sieht er sie als Klassenlehrer viel zu wenig. Dabei soll ein Klassenlehrer ja mehr als ein Fachlehrer sein. Er soll ihnen die Tränen trocknen, wenn sie Sorgen haben, soll sie erziehen, wenn die Eltern keine Lust dazu haben, den Eltern Rede und Antwort stehen, wenn er immer noch nicht erfolgreich war, und eben all‘ dieses kann er nur, wenn er seine Schützlinge gut kennt.

Wie aber soll er das bei gerade mal drei Stunden pro Woche anstellen? Herr Krüger gibt sich redlich Mühe, geht selten an Ihnen vorbei, wenn er sie unterwegs trifft, sondern fragt, wie es ihnen geht. Trifft er sie in der Mittagspause, setzt er sich kurz zu ihnen, falls sie essen, würzt noch einmal ein bisschen nach oder wischt seinen Schülern den Mund ab, wenn ihnen noch Essensreste im Gesicht kleben. Anderen, die nicht gerade essen, sondern Schularbeiten erledigen, schaut er kurz über die Schulter und fragt, ob er helfen kann, manchmal sagt er ihnen sogar etwas vor ... aber nur manchmal.

Wenn einer aus seiner Klasse Geburtstag hat und Naschwerk zum Verteilen in der Klasse rumgibt, steht Herr Krüger immer schnell in der Schlange: „Für den Klassenlehrer sind doch immer zwei Teilchen vorgesehen, oder? grinst er dann oft mit einem fragenden Blick zum Geburtstagskind. „Vielleicht nachher, falls noch was übrig ist“ antworten sie dann meistens. „Das wäre toll, ich habe sooo einen Hunger“ nutzt Herr Krüger solche Situationen, um mal nicht der strenge Lehrer zu sein.

Ob er mit all diesen Bemühungen erfolgreich ist, zeigt sich in unterschiedlicher Form: Manchmal im bloßen Begrüßen, wenn Schüler aus seiner Klasse ihm begegnen. Wenn Herr Krüger dann stehenbleibt, ist das oft der Auslöser dafür, dass sich auch andere Schüler aus der Nähe um ihn herum scharen und er sich plötzlich inmitten einer Schülertraube wiederfindet, aus der er kaum wieder rauskommt. Manchmal ist es aber auch ein Schüler, der sich hilfesuchend und vertrauensvoll mit einem Problem an Herrn Krüger wendet. Alle diese Situationen hat Herr Krüger bereits mehrfach erlebt.

Zu den weitaus selteneren Fällen zählen Bekenntnisse. Und dennoch passiert es. Letzte Woche hat Herr Krüger ja unerwartet einen Liebesbrief von zwei Jungs aus seiner Klasse bekommen – definitiv ein Highlight des Schuljahres, über das sich Herr Krüger noch einige Zeit und immer wieder freuen wird. Von solchen Highlights erlebt man als Lehrer nicht besonders viele. Vielleicht ein bis zwei im Jahr nach seiner Erfahrung.

Auch in der heutigen Biologiestunde geht es wie letzte Woche wieder ums Mikroskopieren, wenn auch mit einem anderen Präparat. Wieder rufen alle Schüler seiner Klasse gleichzeitig und wollen, dass Herr Krüger guckt, hilft, lobt und mit Rat und Tat zur Seite steht. Kurz vor Stundenende steht er am Tisch von Marco und Piet, als er einen zusammengefalteten Zettel sieht, auf dem ‚Für Krüger‘ steht. „Für Krüger? Fehlt da nicht ein Wort?“ guckt Herr Krüger die beiden abwechselnd an. „Sie wissen doch auch so, dass es für Sie ist“ reagiert Piet und bereitwillig nimmt Herr Krüger den Brief an sich. Aus dem Augenwinkel beobachtet er, wie sich die beiden Jungs freuen und – wie letzte Woche – gespannt auf Herrn Krügers Reaktion sind.

Dieser entfaltet in dieser Woche einen fast doppelt so großen Zettel, auf dem sich die beiden selbst übertroffen haben. Wann immer sie den Brief geschrieben haben, es hat garantiert länger gedauert als in der letzten Woche. Muss ja bei dem Umfang, der sich dieses Mal über ganze fünf Zeilen erstreckt. Als Herr Krüger liest, was die beiden zu Papier gebracht haben, merkt er, dass sie ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen sind:
„Liebster Herr Krüger. Wir freuen uns total, dass wir sie als Klassenlehrer haben. Es ist sehr schade, dass wir sie nicht öfters haben. Sie sind so aktraktiv, nett, hilfsbereit, symphatisch und sehr süß. Sie sind unser ein und alles. Wir vermissen und lieben sie. Ihr Piet, Marco“
Dennoch – auch dieser Brief zeigt vollen Erfolg, denn wieder kann sich Herr Krüger das Grinsen nicht verkneifen und wieder fragt Herr Krüger nach: „Seid ihr sicher, dass ihr mich meint?“ „Ja, natürlich, wen denn sonst?“

Losgelöst von der aktuellen Unterrichtssituation sind die Jungs darüber hinaus erfolgreich: Ihr Brief schafft es bis in die Raritätenvitrine von Herrn Krüger, die er sich irgendwann als Motivationsmöbel in sein Arbeitszimmer gestellt und damals natürlich auch von der Steuer abgesetzt hat. Glückwunsch, Jungs!

Ein Wehmutstropfen bleibt trotz alledem: In zwei bis drei Jahren werden die beiden vermutlich leugnen, irgendetwas mit diesem Brief zu tun geschweige denn, ihn geschrieben zu haben. Schließlich ist genau so etwas irgendwann nicht nur uncool, sondern oberpeinlich! 

Mittwoch, 18. Februar 2015

Schülertypen

Vertretungsstunden können so oder so laufen, diese Erfahrung macht Herr Krüger immer wieder. Manchmal werden es brillante Sternstunden, manchmal aber auch Stunden der Ewigkeit. Welche Faktoren dabei eine Rolle spielen, ist schwer zu sagen und im Zweifelsfalle sowieso nicht allgemeingültig. Allerdings hat sich herausgestellt, dass ein Klassenverband in solchen Situationen weitaus schwieriger zu unterrichten ist als eine Lerngruppe, die sich aus Schülern mehrerer Klassen zusammensetzt.

Diese Erfahrung wurde Herrn Krüger zuteil, als er die 9b vertreten musste. Nachdem die Schüler, aber auch Herr Krüger den ersten Kontakt aufgenommen hatten, bestand unmittelbar zu Stundenbeginn noch eine gewisse Spannung, zumal die Kids nicht wussten, was sie erwartet. Nach der Begrüßung jedoch begann das übliche Dauerkommentieren durch die Schüler. „Da ich kein Physiklehrer bin ...“ – schon hörte Herr Krüger die ersten Tuscheleien unter den Tischnachbarn – „ich aber immer wieder feststelle, dass die sprachliche Qualität bei Schülern in eurem Alter noch sehr geschult werden muss, habe ich mir für die Stunde heute eine Deutschaufgabe überlegt, für die ihr Papier und Stift braucht.“ Tumult. Nicht eskalierend, aber Tumult. Klar, so unglaubliche Sachen wie Papier und Stift müssen doch erst einmal kommentiert werden, warum auch immer. Schade, denkt sich Herr Krüger. Wobei - es wäre doch mal spannend, alle Kommentare in einer Situation aufzunehmen, in der nur Arbeitsmaterial auf dem Tisch bereit gelegt werden soll ... Immer wieder ist er verblüfft, was es dann schon alles zu reden gibt.

„Zunächst brauche ich bitte zehn Begriffe von euch, die nicht zu alltäglich sind und möglichst wenig miteinander zu tun haben.“ Keiner meldet sich und Herr Krüger beobachtet die Klasse. Dabei fallen ihm die vier Grazien auf, die bereits unmittelbar nach dem Betreten des Raumes aufgefallen sind. Vicky bedient alle Klischees, die man von einem weiblichen Teenager in ihrem Alter erwarten kann. Sie hat lange Haare, ist viel zu viel und dann leider auch noch schlecht geschminkt, hat eine große Handtasche, die mit dem halben Douglas-Sortiment ausgestattet und anderes, unterrichtsfernes Material beschwert ist sowie ein loses Mundwerk.

Ihre drei Nachbarinnen stehen ihr in diesen Merkmalen kaum nach. Während Herr Krüger auf die zehn Begriffe wartet und ihn die beängstigende Vermutung beschleicht, dass diese Klasse Nomen, Adjektive und Verben nicht unterscheiden, geschweige denn Begriffe nennen kann, die wenig miteinander zu tun haben, nutzt Vicky die Gelegenheit erst einmal Hand und Nägel zu pflegen. Sie holt eine Tube Creme aus den Katakomben ihrer Handtasche, die sie – wie Oma in der Bahn – auf ihrem Schoß platziert hat. „Willst du auch was?“ bietet sie Jasmina ihre Creme an. „Klar!“ Auch Elise kann man wenige Sekunden später in Gesellschaft ihrer drei Freundinnen die Hände kreisen sehen. „Braucht sonst noch jemand Handcreme in der Klasse?“ ermahnt Herr Krüger mit der gehörigen Portion Ironie zwischen den Zeilen. „Ja, ich ...“ meldet sich wahrhaftig eine Schülerin aus den hinteren Reihen ...

Vicky ist aber noch nicht fertig mit der Schönheitspflege, denn im nächsten Moment zückt sie einen kleinen Handspiegel aus ihrer Tasche, guckt hinein und murmelt vermutlich „wer ist die Schönste im ganzen Land?“

Mit Müh und Not sowie viel, viel Geduld entlockt Herr Krüger zähfließend zehn Begriffe aus fünf der insgesamt 28 Köpfe.  

„Ihr sollt jetzt aus fünf Begriffen eine Geschichte schreiben, in der jedes Wort mindestens einmal ...“ seine Stimme verschwindet im erneuten Stimmengewirr von Bemerkungen, Kommentaren und unreflektiert entlassenen Gedanken. Ein letztes Mal bäumt sich Herr Krüger auf, ruft laut in die Klasse und es gelingt ihm, letzte Instruktionen zu geben, bevor es die nächsten Bemerkungen hagelt und seine Stimme übertönt wird. Und dennoch – nach vielen ‚Pschts‘, individuellen Ermahnungen und ganzen zehn Minuten gelingt es Herrn Krüger doch noch, so viel Ruhe in die Klasse zu bekommen, dass fast alle ihre Geschichte schreiben.

Endlich kann Herr Krüger die Klasse mal ein bisschen detaillierter abchecken und stellt fest, dass es bestimmte Typen von Schülern gibt:

Die vier Grazien aus Reihe eins hatten sich ja bereits hervorgetan, schrieben jetzt aber auch, sodass Herr Krüger endlich auch einmal die anderen Mädchen wahrnimmt: da, auf der rechten Seite das brave Pendant zu den Miezen da drüben, fällt Herrn Krüger auf. Sie schreiben eifrig und konzentrieren sich auf die gestellte Aufgabe. Lehrer lieben diese Sorte von Schülerinnen, zumal sie auch noch eine wundervoll lesbare Handschrift haben.

Auch dahinter ist es sehr ruhig und Herr Krüger nimmt jetzt erst die beiden Jungen einer weiteren Sorge wahr, die dort sitzen. Jungs, die sehr aufmerksam, aber total schüchtern sind und innerhalb der Klassengemeinschaft eher Randfiguren sind. Leider erkennt man dies viel zu schnell an ihren fettigen Haaren und einem wenig spektakulären Klamottenstil.

Rechts davon gibt es einen von der nächsten Sorte Schüler: vermeintlich cool, ziemlich überheblich und arrogant. Weil er sich sowieso cooler als jeder Lehrer wahrnimmt, aber offenbar mit einem immensen Geltungsbedürfnis beschenkt wurde, trägt er seine Jeans so tief, dass man seine Boxershorts kaum noch als Unterhose, sondern eher als der Jeans gleichgestellte Hose bezeichnen müsste.

Erneutes Quatschen zieht Herrn Krügers Aufmerksamkeit auf die andere Seite. Dort sitzen in der letzten Reihe noch zwei Jungs, die „nicht Fisch, nicht Fleisch“ sind. Sie sind grundsätzlich folgsam, erledigen auch ihre Aufgaben, lieben es aber ungemein, zu zweit miteinander zu quatschen. Auf Ermahnungen reagieren sie sofort. Die gehen immer noch, denkt Herr Krüger.

Ein bisschen Rache muss sein, findet Herr Krüger, und so sucht er sich einige der Schülerinnen und Schüler raus, die besonders auffällig und nervig waren und fordert sie auf, ihre Geschichten vor der Klasse vorzutragen.

Unter Murren und Knurren ziehen die benannten Schüler nach vorne. In diesem Augenblick bietet sich Herrn Krüger ein Beispiel einer interessanten perspektivischen Betrachtung: Während die Schüler nach vorne gehen, werden sie klein und kleiner, bis man sie kaum noch sieht – ganz so, als würden sie sich innerhalb eines 3-D-Bildes zwischen den einzelnen Ebenen bewegen. Ob das den Kunstlehrern bewusst ist ... mit der Perspektive und so? Herr Krüger schmunzelt.

Erstaunlicherweise bleibt die Klasse relativ diszipliniert, als die einzelnen Geschichten vorgelesen werden, die mal mehr, mal weniger originell geschrieben sind. Zum Teil applaudierte die Klasse auch. Warum auch nicht, schließlich schlummert zum Teil erhebliches Potential in den Kids, das sie nur oft nicht erkennen. 
Von diesem Potential überzeugt sich auch Herr Krüger, als er sich nach der Stunde die geschriebenen Geschichten geben lässt. Nur Vicky hat ihre sofort zerknüllt. Warum wohl?

Dienstag, 17. Februar 2015

Monophobie

Es ist Montagmorgen. Herr Krüger hatte ein wunderbares Wochenende und es fast bis zur letzten Minute ausgekostet, ist also spät ins Bett gekommen, sodass er die Woche ausgesprochen müde beginnt. Dennoch schält er sich so rechtzeitig aus der Bettdecke und macht sich fertig, dass er schon um 07.20 Uhr in der Schule ist, um nicht gleich wieder in die Hektik geschubst zu werden, sondern den Tag und die Woche ruhig angehen zu können. Er kopiert, leert sein Fach und trottet – den Rucksack entgegen dem Rat des Orthopäden über die eine Schulter geworfen – übers Schulgelände.

Erste Schüler drücken sich in der einen oder anderen Ecke des Schulgeländes herum, als Herr Krüger sich Richtung Neubau bewegt.

In seiner Klasse angekommen, lässt er seinen Rucksack auf einen Stuhl fallen und beginnt, sich zu sortieren, den PC anzuwerfen, sein Passwort einzugeben und sich langsam, aber sicher an den Gedanken zu gewöhnen, dass gleich wieder eine Horde Kinder, wenn auch zumindest in den ersten zwei Stunden noch müde Kinder, den Raum bevölkern werden.



Noch sind ungefähr 20 Minuten Zeit, als ein Schüler aus der Achten den Raum betritt: „Herr Krüger ... guten Morgen ... „ Herr Krüger drehte sich zu ihm, es ist Nils, der offenbar direkt zu ihm gekommen und noch nicht im Klassenraum war, denn er trägt seinen Rucksack auf dem Rücken, die Mütze auf dem Kopf und ... ist das da ein Ohrstöpselkabel, was da zwischen Schal, Jacke und Mütze herausguckt? Tatsächlich! Immerhin, einen Stöpsel hat Nils schon aus dem Ohr plöppen lassen, aber der andere wärmt sein Ohr noch immer von innen. Herr Krüger ist zwar noch nicht ganz groß in Fahrt, dennoch aber schon flink genug, um ein lautloses „Guten Morgen“ zu erwidern, das Nils jedoch nur an Herrn Krügers Lippen ablesen kann. Da er Herrn Krüger aber schon gut kennt, weiß er sofort, worauf dieser hinauswill und entkorkt auch sein zweites Ohr, sodass Herr Krüger jetzt offen für Nils und seine Fragen ist.



Herrn Krüger lassen die Ohrstöpsel aus irgendeinem Grund die nächsten Tage nicht mehr los. Ihm fällt auf, wie viele Schüler an dieser Schule einseitig versiegelt durch den Schulalltag steuern – zumindest durch die Pausen. Inwiefern sich das bis in die einzelnen Stunden ausdehnt, weiß er freilich nicht. Dennoch grübelt Herr Krüger auf all seinen Wegen, während der Aufsichten und auf dem Schulweg nach Hause über die möglichen Ursachen dieser Verkabelung nach.

Sind diese kleinen Schaumstoffgnubbel wirklich nur verkleinerte Kopfhörer, mit denen die Jugendlichen Musik hören? Und wenn ja, warum? Früher gab’s das nicht, auch nicht zu Walkman-Zeiten; auch in der Grundschule sieht man so etwas nicht; in den siebten Klassen ... na ja, zumindest in der ersten Zeit auch nicht. Aber dann! Kaum sind Siebtklässler ein paar Wochen an der neuen Schule, sprießen die Ohrstöpselkabel wie Pilzhyphen aus den T-Shirts, Sweat-Shirts und Jacken und münden wie deren Fruchtkörper in der Ohrmuschel der Halbstarken.

Vielleicht – so mutmaßt Herr Krüger – halten sie es einfach nicht aus in der Stille, sind mit drei bis fünf Inputs gleichzeitig aufgewachsen und kennen aufgrund der Multimedialandschaft des städtischen Alltags keine Ruhephasen mehr, nicht einmal mehr aus Ferienzeiten.

Vielleicht ist es aber auch ganz anders und eine böse Ahnung beschleicht Herrn Krüger. Vielleicht leiden all diese Kabelkinder unter Monophobie. Mangels Erfahrung, in der einen oder anderen Problemsituation auf sich alleine gestellt zu sein, gelingt es ihnen nicht, irgendwelche Situationen alleine zu meistern. Und von solchen Problemsituationen sind  sie ja jederzeit umgeben, auch in der Schule: Ein Gespräch mit dem Klassenlehrer, dem eine geschwänzte Stunde zu beichten ist ... alleine überstehen? Niemals. Da kommt die Modewelle der Ohrstöpsel gerade Recht, denn so kann man jederzeit mit anderen verkabelt sein – erst Recht zu Zeiten des allgegenwärtigen Handys. Nur – wer ist da immer am anderen Ende der Leitung und mimt den Therapeuten? Eltern bzw. Erwachsene? Eher nicht. Schließlich sind sie oft der Auslöser zahlreicher Probleme. Dann vielleicht ein älterer Kumpel oder Freund? Ja, klar, jemand aus einer höheren Klasse, der im Zweifelsfalle einen Erfahrungsrat geben kann. Nur müssen die dann ja alles auch immer mithören. Ob die das tun?

Jede Security ist heutzutage verkabelt, um im Zweifelsfalls Verstärkung zu rufen, warum sollte dieses System also nicht auch zu den Schülern durchgedrungen sein? Schließlich kann eine Situation auch in der Schule eskalieren, z. B. wenn ein Lehrer nicht auf den Schüler hört und eine nachgereichte Hausaufgabe nicht akzeptiert. Vielleicht auch dann, wenn er es wagt nachzufragen, weshalb ein Schüler zu spät kommt. Also Gründe finden die Schüler bestimmt immer.

Montag, 16. Februar 2015

Altruismus

Vierte Stunde. Herr Krüger ist bereits seit einigen Minuten in der Klasse, um Pünktlichkeit vorzuleben und mit dem Klingeln beginnen zu können. So steht er, als es schellt, startbereit und demonstrativ vor der Klasse. Seine Siebtklässler kennen ihn mittlerweile, sodass relativ schnell Ruhe einkehrt und alle für die Begrüßung an ihren Plätzen stehen. Herr Krüger streift mit seinem Blick alle Schülerinnen und Schüler und sieht, dass Heidi noch immer an ihrem Platz rumkramt und noch nicht zur Ruhe gekommen ist. Sie versucht, wie Herr Krüger jetzt sieht, ihre Haare noch einmal zu bürsten, steckt aber auf ein unmissverständliches Räuspern von Herrn Krüger Lena ihre Bürste zu, die sie schnell in ihre Tasche schiebt. „Lena? Ist das deine Bürste?“ Herr Krüger ist irritiert. „Wieso bürstet sich Heidi ihre Haare mit deiner Bürste?“ „Sie hat ihre vergessen und ich habe ihr meine geliehen.“ Herr Krüger reißt die Augen auf, während die Blicke der stehend wartenden Mitschüler zwischen Lena, Heidi und Herrn Krüger wie beim Tennis hin- und herwandern, darauf lauernd, ob es ein spannendes Match geben und wie dieses wohl ausgehen wird. Wer von beiden landet einen gezielten Schmetterball? Doch Herr Krüger ist gar nicht auf ein nervenaufreibendes Endspiel aus, sondern begnügt sich mit einem verbalen Matchball: „Ich finde es toll, dass ihr euch so umeinander kümmert, aber ... leiht ihr euch auch gegenseitig die Zahnbürsten?“ „Iiiiih, nein, natürlich nicht, was denken Sie denn ...“ Herr Krüger grinst und begrüßt seine Klasse.

Geografie steht mal wieder auf dem Stundenplan und der Arbeitsauftrag lautet, verschiedene Signaturen aus dem Atlas zu ermitteln und in eine Umrisskarte von Asien einzuzeichnen. Die Schüler pfeifen direkt zum nächsten Spiel, indem Sie Herr Krüger zum Online-Portal „gutefrage.net“ umfunktionieren  – schließlich fällt ihnen ‚digitales Denken‘ leichter – und Fragen über Fragen stellen, auch solche, auf die kaum ein Erwachsener kommen würde. Bereitwillig füttert er Piet, Natalia, Melanie, Heidi und all die vielen anderen mit den notwendigen Antworten.

Manchmal ist es aber auch Herr Krüger, der die Fragen stellt und so muss Marco Rede und Antwort stehen, als Herr Krüger ihn fragt, warum er das Symbol für Kupfer nicht mit einem organgefarbenen Buntstift einfärbt, wie es an der Tafel vorgegeben ist, sondern stattdessen nur mit Bleistift arbeitet. Aber Marco weist kurzerhand auf seinen Nachbarn: „Anton hat keine Buntstifte mit, deshalb hab ich ihm meine Federtasche gegeben und mir einen Bleistift von Piet geliehen.“ „Wie, deine Karte bleibt schwarz-weiß, damit Anton eine farbige hat? Das ist mir echt zu hoch; es sind aber doch deine Stifte ...?“ Herr Krüger wird zum Nachbartisch gerufen, wo ihn Natalia anspricht: „Herr Krüger, Jasmin möchte sie etwas fragen!“ „Ach“, spielt Herr Krüger verwundert, „und du machst für sie als Bodyguard den Weg frei?“ „Ja, weil sie hat sich nicht getraut zu fragen ...“ Herr Krüger verfolgt auch diesen Gesprächsfaden nicht weiter und leistet Jasmin Hilfestellung. Selbstverständlich setzt auch Natalia ihre Arbeit aus, schließlich muss sie mitverfolgen, ob Herr Krüger Jasmin auch angemessen hilft. Herr Krüger bemerkt dies und guckt sich kurz im näheren Umfeld von Natalia um. Fünf Augenpaare sind auf die Hilfssituation mit Natalia gerichtet. „Ist das sooo spannend, was wir hier klären oder warum unterbrecht ihr alle eure Arbeit? Wollt ihr vielleicht einen Sitzkreis bilden, solange ich mit Jasmin spreche ...?“



Als Herr Krüger seinen Rundgang durch die Klasse fortsetzt, trifft er Alfons, der sich drei Tische von seinem eigenen Platz entfernt über den Atlas von Merle beugt. „Ähm ... Alfons, kannst du mir erklären, wieso du ...“ „Ich sage ihr nur, wie sie die Zeichen richtig malt ...“ „Und das, obwohl du selbst noch kein einziges Symbol in deine Karte eingetragen hast?“ fragt Herr Krüger mit einem geübten Blick auf dessen Blatt“, ich glaub‘ eher nicht ...“ Ertappt trottet Alfons auf seinen Platz zurück, an dem Herr Krüger seinen Sitznachbarn Marlon dabei beobachtet, wie er gedankenverloren dem rankenden Efeu, der auf dem Fensterbrett steht, langsam aber stetig ein Blatt nach dem anderen ausrupft. „Marlon, lass den Efeu leben! Ich reiße dir ja auch nicht einfach so mal ein oder zwei Ohren ab ... Weißt du was, du kümmerst dich mal in der Pause um all‘ unsere Pflanzen. Da hinten steht die Gießkanne, tu mal etwas Gutes und versorge mal unsere grünen Lungen hier!“ Hinter Herrn Krügers Rücken poltert es, weil Samet unmittelbar aufgesprungen ist, „ich kann das machen ...“ und schon den halben Klassenraum auf dem Weg zur Gießkanne durchquert hat. Herr Krüger hält ihn fest und schiebt ihn zu seinem Platz zurück. „Heißt du Marlon?“ „Nein, aber ...“ „Nix da, zurück an die Arbeit!“

Was ist bloß mit dieser Klasse los. Soziales Miteinander ist toll, aber ob das in jeder Situation so sinnvoll ist? Schließlich driftet hier einiges in eine Richtung, bei der Schüler sich oft ein Eigentor schießen, weil sie sich mehr um die anderen als um sich selbst kümmern. Im Tierreich nennt man sowas ‚Altruismus‘, denkt Herr Krüger, aber das gibt’s doch eigentlich vor allem bei staatenbildenden Insekten!? Ob sich diese Klasse als Insektenstaat sieht? Vielleicht hätte er die Einheit zu den Ameisen in Biologie doch erst später im Schuljahr durchnehmen sollen ...