Wenn man mit offenen Ohren durch
die Schullandschaft lustwandelt, fliegen einem viele Sprachfetzen um die Ohren.
Im Lehrerzimmer geht das gar nicht anders, weil die Pausen so kurz sind, dass
meistens gar nicht die Zeit für ganze Sätze hat. Ganz im Gegenteil,
Lehrerzimmer- bzw. Pausengespräche hören aufgrund einer berlinweit
durchgeführten Studie zu 83 % mitten im Satz auf, weil mitten im Gespräch
ein Kollege in den jeweiligen Dialog hineingrätscht. Sätze wie „Kannst du mir
nur ganz kurz sagen, ob du deine Klasse teilst oder nicht ...“ oder „Denkst du
daran, dass Lara und Alina heute zur SV sind ...“ hat Herr Krüger schon oft
gehört, aber auch selbst gesagt.
Obwohl die Schüler nur sehr
selten und dann auch nur kurz im Lehrerzimmer sind und sich längst nicht so
hetzen lassen wie Lehrer, haben auch sie sich eine Sprache angewöhnt, die an
Vollständigkeit eingebüßt hat. Dies wird Herrn Krüger wieder einmal deutlich,
als er einen vollen Acht-Stunden-Tag hat, also etwa 120 Schüler unterrichten
muss und zusätzlich noch in seiner Pausenaufsicht etliche andere Schüler
trifft.
In der ersten Stunde arbeiten die
Schüler mehr oder weniger engagiert an einer thematischen Karte. Die Aufgaben
stehen mit wohl überlegten Formulierungen auf den Arbeitsblättern. Und dennoch
– als Herr Krüger nach einem kleinen Rundgang wieder seinen Lehrertisch
ansteuert, trifft ihn von hinten ein „Herr Krüger, sollen wir auch drei?“ Herr
Krüger wartet, aber es kommt nichts mehr. Er dreht sich um und zieht
verständnislos die Schultern hoch. „Sollen wir auch Aufgabe drei machen?“ wiederholt
sich Jennifer dieses Mal mit mehr Mühe. „Ach sooo“, simuliert Herr Krüger ein
spätes Verstehen, „das meinst du. Ja, natürlich sollt ihr.“ Ein weiterer
verkümmerter Satz von Jennys Nachbarin Annelie erreicht Herrn Krügers
Trommelfell: „Können wir den Atlas?“ Auch hier reagiert Herr Krüger nicht
gleich, in der stillen Hoffnung, dass Annelie den Satz noch vervollständigt.
Pustekuchen. Da kommt nichts mehr. Herr Krüger macht ein Gesicht wie Oliver
Hardy und hat Erfolg. „Dürfen wir den Atlas benutzen?“ „Selbstverständlich“
lächelt Herr Krüger demonstrativ zufrieden.
In seiner zweiten Lerngruppe,
eine siebte Klasse, die Herr Krüger in Bio unterrichtet, erlebt er kaum eine
andere Sprachvollständigkeit. „Müssen wir beide, Herr Krüger?“ fragt Annika.
„... Augen benutzen? Ja, Annika, du musst keins zuhalten, falls du das fragen
wolltest.“ „Maaaan, sie wissen doch, was ich meine.“ Erstaunlich, philosophiert
Herr Krüger innerlich weiter, wenn es darum geht, Schlüsselbegriffe zu
markieren, tun sich die Kids bis in die Oberstufe sooo schwer. Wenn es aber
darum geht, Sätze zu formulieren, gelingt es ihnen, Varianten zu finden, die –
sinngemäß – jede Menge Beispiele für Minimalismus hervorbringen.
Die Pausenaufsicht verspricht
einen Moment zum Luftholen, denkt sich Herr Krüger, hat aber nicht damit
gerechnet, dass der Jahrgangsraum in der Mittagspause geöffnet ist. Und so
kommt sich Herr Krüger wie ein Türsteher vor, der in seinem Job auch nicht
besonders viel Sprachgehalt erleben dürfte. „In den Jahrgangsraum“ bringt ein
Achtklässler mit Mühe hervor und will passieren. Aber Herr Krüger hält ihm
einen Arm in den Weg. „Dein Satz unvollständig!“ erwidert Herr Krüger nach
einem sprachlichen Sturzflug. „Hä?“ „Mann, du sollst anständig sprechen“, hilft
Kristin dem Achtklässler dabei, Herrn Krüger zu verstehen, da sie ihn schon
länger kennt. „Ich will Jahrgangsraum.“ Wieder hilft Kristin: „Können wir beide
bitte in den Jahrgangsraum gehen, Herr Krüger?“
Herr Krüger entdeckt ein weiteres
Phänomen: Wenn Schüler verstümmelt reden, fällt es kaum jemandem auf. Wenn aber
Lehrer es ihren Schülern gleichtun, werden sie entrüstet angeguckt, wie sie es
wagen können, schlechte Sprache zu sprechen. Fast das Gleiche erlebt Herr
Krüger immer mal wieder, wenn sich in seine Arbeitsblätter mal ein Fehler
einschleicht, ob ein Buchstabendreher oder einer, der z. B. am Wortende
fehlt. Häufig wurde er bis zu einem halben Dutzend Mal darauf hingewiesen:
„Herr Krüger, hier fehlt ein ‚n‘!“ Im Gegenzug dazu scheinen die Schüler ihre
eigenen, um ein Vielfaches häufigeren Fehler komplett auszuklammern. Was für
eine verkehrte Welt.
Wie Herr Krüger der Verstümmelung
der deutschen Sprache entgegenwirken kann, weiß er noch nicht. Aber den Kampf
hat er noch lange nicht aufgegeben!