Aus purem Eigeninteresse heraus
und ohne dass ihn jemals jemand deshalb angesprochen hat, reflektiert Herr
Krüger gerne seinen Unterricht. Die Verlockung ist natürlich groß, beim
Beamtenmikado mitzuspielen. (Es gibt nur eine Spielregel: Wer sich als erster
bewegt, hat verloren.) Mit der Aussicht, dass er jedoch gleich wieder
rausfliegen würde, bemüht er sich aber gar nicht erst um einen Platz als
Mitspieler. Stattdessen arbeitet er regelmäßig daran, seinen Unterricht zu
analysieren und zu verbessern. Manchmal fragt er unmittelbar nach einer Stunde,
wie den Schülern der Unterricht gefallen hat, manchmal fragt er am Ende einer
Einheit, welche Stunden sie als die besten bewerten und ab und zu lässt sich
Herr Krüger sogar Zeugnisse schreiben. Selbstverständlich geht es dabei nicht
um die Fächer, aus denen ein Schülerzeugnis besteht, sondern mehr um
Eigenschaften, die einen Lehrer, also Herrn Krüger betreffen. Statt Deutsch,
Mathe und Physik stehen da dann also Kriterien wie ‚Umgang mit Schülern‘, ‚Verständlichkeit‘,
‚Gestaltung von Unterrichtsmaterial‘ usw.
Nachdem es wieder einmal
Zeugnisse gegeben hat und auch die Schüler der 7d ihrem Klassenlehrer welche
ausstellen durften, fällt Herrn Krüger auf, dass etliche der Tätigkeiten, die
er im Rahmen seines Jobs auch macht, gar nicht auf seinem Zeugnis auftauchen.
Allerdings, warum und wie soll auch ein Schüler beurteilen, wie oft er, Herr
Krüger, Kopierorgien feiert, Beutezüge durch Verlage unternimmt oder sein
Strickzeug zur Hand nimmt, um neue Unterrichtskonzepte zu stricken?
Die Halbjahreszeugnisse sind gerade
vorüber, als Herr Krüger überraschenderweise Besuch von einem ehemaligen
Schüler bekommt: Fabio ist zwar noch nicht ganz raus aus der Schule, seit
eineinhalb Jahren aber schon am Gymnasium und steht kurz vor dem Abitur. Er
hatte sich erkundigt, wo sein ehemaliger Klassenlehrer gelandet war und war auf
gut Glück an Herrn Krügers Schule aufgeschlagen und siehe da, auf dem Gang laufen
sie sich quasi in die Arme.
„Hallo Herr Krüger, erkennen Sie
mich noch? Ich bin’s, Fabio.“ Strahlend nickt Herr Krüger und mustert
begeistert seinen ehemaligen Schüler, der sich prächtig entwickelt hat. „Gut
siehst du aus,“ sagt er, hast du inzwischen schon dein Abitur in der Tasche oder
bist du schon einen Schritt weiter auf der Leiter zum Beruf?“ „Ehrlich gesagt
schwanke ich noch ein bisschen, Herr Krüger, liebäugele aber durchaus auch mit
ihrem Job ...“ „Mit meinem?“ Herr Krüger kann sich ein Grinsen nicht
verkneifen, runzelt aber gleichzeitig auch die Stirn. „Bist du sicher? Weißt du
eigentlich, was da auf dich zukommt? Du musst sehr vielseitig sein!“ „Deswegen
bin ich auch hier, Herr Krüger, ich bin mir sicher, dass Sie mir bei meiner
Entscheidungsfindung helfen können. Vielleicht können Sie mir ja einfach mal
sagen, was sie alles so machen!?“ „Klar kann ich das machen, komm mit ins
Lehrerzimmer, da ist es ein bisschen gemütlicher.“
Herr Krüger berichtet, dass er seinen
Job eigentlich schon lange als multiple Persönlichkeit mache, da er mindestens acht
Berufe in einem ausübe. Wissensvermittler alleine sei er schon lange nicht
mehr. Den Panoramablick habe er sich im Laufe der Jahre schon antrainiert, um
nicht einen chronischen Zeugen beschäftigen zu müssen, der alles das sähe, was
ein Lehrer oft nicht sieht, ja, kaum sehen könne. Doch das sei gar nicht das
Problem, mehr das ganze Drumherum. Doch nähme er sich eine Liste von Berufen
vor, so stelle er fest, dass der Lehrerberuf außer der Funktion des
Wissensvermittlers auch noch Jobs als Buchhalter, Erzieher, Psychologe, Reiseverkehrsfachkraft,
Reiseleiter, Wachmann, Sozialpädagoge und vor allem als Sekretärin in sich berge.
Würde der Job des Lehrers also nach der Anzahl der Berufe entlohnt werden, müsse
ein Lehrer ein ungefähr achtfaches Gehalt bekommen.
Fabios Grinsen wird immer
breiter, während er Herrn Krügers Ausführungen zuhört. „Hört sich gut an“,
schmunzelt er. „Nein, ganz im Ernst, Fabio, ich glaube, der größte Nebenjob ist
der als eigene Sekretärin. Wenn du dir mal eine Stellenbeschreibung für eine
Sekretärin vornimmst, wirst du zu der Erkenntnis kommen, dass von ihrem
Anforderungsprofil etliches von uns Lehrern erledigt wird. Nicht, dass eine
Schulsekretärin das alles für alle Lehrer tun müsse, das geht natürlich auch
nicht, aber zum Lehrerjob gehören eben auch: Post erledigen, elektronische
Kommunikation mit Eltern, Einrichtungen, Projektleitern usw. führen,
dienstliche Korrespondenz betreiben, Protokolle schreiben, Telefonate führen, Kopien
anfertigen, Terminkalender für die Klasse führen, Veranstaltungen vorbereiten,
Reisen organisieren und Reisekostenabrechnungen erstellen, Akten führen,
Fachzeitschriften auswerten, Fachbücher verwalten, Datenbanken pflegen, Statistiken
führen, Büromaterial beschaffen ...“ „O. k., o. k., ich glaube, das
reicht, Herr Krüger. Sie haben mich schon überzeugt, dass Lehrer weit mehr ist,
als man sich so allgemein vorstellt.“
„Ja, weißt du, Fabio“, ergänzt
Herr Krüger, „Tätigkeitsbereiche können sich ändern und Vorgesetzte können viel
verlangen. Ich habe nur Sorge und wüsste nicht, wie ich mich dann verhalten
soll, wenn mal öffentlich diskutiert wird, dass ein Lehrer immer mehr zur
verwaltenden Sekretärin wird.
Ich muss jetzt auch leider
weitermachen, Fabio, ich habe noch einiges zu kopieren. Du merkst, meine
Fähigkeiten als Sekretärin werden verlangt ...“ „Dann will ich Sie nicht länger
aufhalten, Fräulein ... äh ... Herr Krüger ...“ frotzelt Fabio und steht auf.
„... war aber trotzdem schön, Sie wiederzusehen.“ „Hey, nicht frech werden!“
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