All das kannte Herr Krüger von solchen Gelegenheiten und so
war es für ihn nicht weiter ungewohnt. Und dennoch stach diese Stunde aus den
anderen heraus. Ob es an der Sitzordnung gelegen hatte – die Tische waren
diagonal in der Klasse aufgestellt worden, sodass die Schülerinnen und Schüler
einen besseren Blick sowohl auf die interaktive Tafel als auch auf eine weiße
Magnetwand hatten – oder an etwas anderem, Herr Krüger konnte es nicht
analysieren. Tatsache war allerdings, dass mitten in einer Gruppenarbeitsphase
eine Plastikflasche auf Herrn Krüger zuflog. Obwohl er geistesgegenwärtig die
Hände hob, traf ihn die Flasche zielsicher am Kopf. Von den Schülern, die vom
Landeplatz der Flasche gesehen hatten, zuckten einige zusammen, andere drehten
sich vermeintlich weg, gespannt auf Herrn Krügers Reaktion. Die Werferin selbst
zuckte zwar auch kurz, machte allerdings keinerlei Anstalten, sich zu
entschuldigen.
Herr
Krüger fiel gänzlich vom Glauben ab. Zu seiner Schulzeit waren Essen und
Trinken komplett in die Pausen verbannt gewesen, heutzutage waren diese Grenzen
längst aufgeweicht und zumindest das Trinken wurde von diversen Lehrern während
des Unterrichts erlaubt. Aber dass sich die Schülerin nicht einmal
entschuldigte, nachdem sie festgestellt hatte, dass Herr Krüger keine
Platzwunde am Kopf erlitten hatte, die mit zwei bis drei Stichen fachmännisch
hätte genäht werden müssen, erzeugte bei ihm mehr als Erstaunen.
Als
die Schüler merkten, dass Herr Krüger nicht fassungslos aufsprang und ein Fass
aufmachte (wer hat heute schon ständig ein Fass dabei), nahmen sie ihre Arbeit
wieder auf. Aber als wenn das nicht genug gewesen wäre, gab es für Herrn Krüger
noch ein i-Tüpfelchen obendrauf, das dem ganzen Vorfall die Krone aufsetzte:
Die Schülerin, bei der die Flasche landen sollte – Herr Krüger hatte das
Beweisstück mittlerweile vom Fußboden aufgehoben und auf den Tisch gestellt, an
dem er saß – griff sich die Flasche wie selbstverständlich, nahm ein paar
Schlucke daraus und schob sie dann in ihren Rucksack. Wortlos!
Herrn
Krüger fiel es schwer, sich noch auf den Unterricht zu konzentrieren. Tausend
Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Wie wurden diese Kinder heutzutage
erzogen? Spielten Faktoren wie Respekt, Höflichkeit und reflexartiges
Entschuldigen bei Vorkommnissen wie diesen dabei keine Rolle mehr?
Herr
Krüger ertappte sich bei dem Gedanken, wie er den Klassenraum bei einer
vergleichbaren Beurteilungsstunde mit Helm betrat. Nicht unbedingt mit einem
Integralhelm, aber zumindest doch mit einem Fahrradhelm. Möglicherweise war
aber auch die Variante die beste, die Polizisten bei Demonstrationen tragen,
also mit langem, durchsichtigem Visier. Allerdings würde ein behelmter Lehrer
seinen 360°-Blick aufgeben, den ein guter Lehrer hat.
Oder war all das übertrieben? Waren sie noch nicht soweit, eine
von Herrn Krüger angedachte Helmpflicht für Lehrer einzuführen? Eigentlich doch
nicht, wenn sich potentielle Flaschenwerfer nicht um die Folgen ihrer
sportlichen Betätigung scheren. Hieß deshalb auch die neue Bildungssenatorin so
– Scheeres – um auf diesen Trend der Verantwortungslosigkeit hinzuweisen?
Hoffentlich nicht.
„Konzentrier
dich!“ ermahnte sich Herr Krüger im Stillen. Mal sehen, was die Kollegin
nachher sagt, die den Unterricht leitete ...
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