Der
Schultag beginnt, müde Schülerinnen und Schüler schlürfen ins Schulhaus. Dass
die Füße noch schwerer als im Laufe des Tages sind, ist nicht zu überhören.
Gemeinsam mit dem Streugut der Straßen wird das Haus von Geräuschen gefüllt,
die vermuten lassen könnten, dass eine Großviehherde durchs Gebäude getrieben
wird.
Die
Köpfe der Jugendlichen scheinen noch im Stand-by-Modus zu sein, zumal die
Aufsicht führenden Lehrerinnen und Lehrer daran erinnern müssen, dass gemäß
Hausordnung jegliche Kommunikationstechnik auf dem Schulgelände unsichtbar
bleiben soll.
Auch
Mandy hat das Schulgebäude betreten, ist aber von der Aufsicht offenbar nicht
gesehen und dadurch nicht erinnert worden. Also bleiben die Stöpsel der
Dauerbeschallung im Ohr und sie schlendert gemächlich zu ihrem Klassenraum. Im
zweiten Stock, zwei, drei Meter vor dem Klassenraum begegnet sie Frau Ernst. Diese beobachtet, wie Mandy mit ihrem Handy hantiert, offenbar, um den nächsten
Titel auszusuchen.
Nachdem
Mandy auf das Rufen ihres Namens nicht reagiert, macht Frau Ernst mit einem
Griff an Mandys Schulter auf sich aufmerksam. Mandy dreht sich um und sieht in
Frau Ernsts geöffnete, fordernde Hand. Genervt zieht Mandy einen Stöpsel aus
ihrem Ohr und fragt vorwurfsvoll: „... hä? Was soll das denn jetzt?“ Frau Ernst
rollt einmal innerlich die Augen, ahnt sie doch, dass jetzt ein bereits
tausende von Malen stattgefundenes Wortgefecht folgen wird. „Du kennst die
Hausordnung ... dein Handy und die Ohrstöpsel bitte!“ „Was haben Sie denn für
ein Problem, ich gebe ihnen gar nichts.“ Als hätte Frau Ernst einen
persönlichen Rachefeldzug gegen Mandy – und NUR gegen sie – geplant, guckt sie
ihr hasserfüllt in die Augen; dabei hat Frau Ernst sie gar nicht im Unterricht,
sondern wollte eigentlich nur ihren Job machen.
Frau
Ernst ist noch nicht lange an dieser Schule, weiß aber dennoch, dass – wie an den
meisten Schulen heutzutage – während des Schultages Handyfreiheit gilt. Einzig
Mandy scheint das nicht zu wissen, zumindest nimmt sie all ihr
schauspielerisches Talent zusammen, um Frau Ernst glauben zu machen, dass SIE
im Irrtum sei und sie Mandy gar nicht diesbezüglich belästigen dürfe.
Frau
Ernst ist sehr konsequent in solchen Dingen und so entlässt sie Mandy nicht aus
der Situation und steht nach wie vor das Handy fordernd vor ihr. Ganz ruhig
wiederholt sie ihre Aufforderung: „Gibst du mir jetzt bitte dein Handy und die
Ohrstöpsel?“ „OOaaaaarrrgghh, was wollen sie von mir? Da ... bitte ... ich pack
das Handy ein ... jetzt zufrieden? faucht Mandy weiter.
Wieder
einmal geht dieser Film vor Frau Ernsts innerem Auge ab: ‚Wie kann das sein,
dass unsere Eltern und wir ohne Handy groß geworden sind? Wie haben wir das nur
geschafft? Eigentlich leben wir gar nicht, wenn man sich die Jugendlichen
heutzutage ansieht: Denn folgt man der Argumentationsweise der Jugendlichen,
dann gibt es mannigfaltige Szenarien, die den Umgang mit dem Mobiltelefon nicht
nur rechtfertigen, sondern aus deren Sicht sogar unumgänglich machen: Sei es
der Blick auf die Uhr, der Hinweis, dass man auf eine dringende Nachricht warte
oder die Ausrede, dass man den Taschenrechner bräuchte; ohne Handy geht
heutzutage bei Jugendlichen gar nichts mehr.
Frau
Ernst wird zurück in die Situation geholt, denn Mandy fühlt sich inzwischen
noch mutiger. Eine kleine Traube müder, aber stets sensationslüsterner
Schülerinnen und Schüler hat sich gebildet, die dem Kampf um die Trophäe
beiwohnen wollen. Frau Ernst gibt keinen Zentimeter nach: „Wir können jetzt
hier noch lange stehen, ich habe in der ersten Stunde keinen Unterricht, also
hab ich Zeit ...“ Mandys Gesichtsfarbe nähert sich einem leuchtenden Purpur,
bevor sie wutschnaubend das Handy rausrückt. Selbstverständlich tut sie dieses
nicht, ohne noch eine abschließende Drohung auszurufen. „Das wird noch Folgen
haben, das garantiere ich ihnen ...“
Was
für eine Blöße sie sich da geben musst – unzumutbar. Schließlich ist es ein
absolutes 'No-Go', sein Handy abzugeben. Freiwillig sowieso nicht - wen
interessiert schon eine Hausordnung - und auch wenn man quasi gezwungen wird.
Und jetzt? Sie wird später zur Schulleitung gehen und sie erstmal darüber
belehren, was die Lehrer dürfen und was nicht, soviel ist sicher! Außerdem will
sie ihr Handy wiederhaben. Schließlich hat sie es nur rausgegeben, weil sie
wusste, dass in der ersten Stunde eine Arbeit geschrieben wird, nicht etwa,
weil sie im Unrecht gewesen ist. Im Grund hat sie Frau Ernst lediglich erlaubt,
das Handy "vorübergehend zur Aufbewahrung" im Sekretariat zu lassen.
Spätestens nach der Schule ist das Handy gefälligst wieder auszuhandygen.
Schulschluss:
Mandy will jetzt ihr Handy wiederhaben. Dummerweise ist das Sekretariat nicht
mehr besetzt und so versucht sie es am Lehrerzimmer. Die Tür öffnet sich und
Frau Hoffmann öffnet. Wie aus dem Nichts hervorgeholt und als kenne sie es gar
nicht anders, flötet Mandy mit einem Lächeln auf den Lippen und in
freundlichstem Ton: „Guten Tag Frau Hoffmann, ich musste heute Morgen mein
Handy abgeben und wollte jetzt fragen, ob ich es bitte wiederhaben darf!?“ Frau
Hoffmann fragt sich, ob es Mandy ist, die vor ihr steht, denn aus dem
Physikunterricht kennt sie Mandy und ihre sonst nur rudimentär vorhandenen
Höflichkeitsfloskeln.
„Tut
mir leid, Mandy, aber wenn nebenan im Sekretariat keiner mehr ist, kann ich dir
auch nicht weiterhelfen, wir bringen eingezogene Handys immer sofort in den
Safe. Schlagartig wechselt die soeben noch überhöfliche Knigge-Schülerin ihre Charakterfarbe
und findet auch den Farbton von heute früh wieder. Gleichzeitig spuckt Mandy verbales
Ungeziefer aus, kehrt Frau Hoffmann unmittelbar den Rücken und zieht fluchend
davon. Frau Hoffmann kennt das schon und so lässt sie die Tür ins Schloss
fallen und Mandy ziehen.
Am
selben Abend plagt Frau Ernst ihr schlechtes Gewissen, hat sie doch Mandy quasi
ihr Herz rausgerissen. Sie hatte schon überlegt bei Mandy anzurufen und ihr zu
sagen, dass Sie solange bis der Safe wieder geöffnet wird, ihres, Frau Ernsts
Handy, haben könne. Aber irgendwie fehlen ihr die Worte. Glücklicherweise kommt
ihr Mandys Mutter zuvor, indem sie eine lange Email schreibt. Da ihre Mutter in
Sachen Rechtschreibung und Grammatik einen ähnlichen Schreibstil hat, kann Frau
Ernst sie auch gleich verstehen, zumal ihre Mutter zum Glück schreibt, wie es wirklich war. Sie kennt viel mehr Details der Situtation als Frau Ernst, so dass sie also auch
viel bessere Worte finden kann, als es Frau Ernst als Deutschlehrerin jemals
vermocht hätte. Gut, dass Mandy so eine engagierte Mutter hat, die sich zudem
so gut im Schulrecht auskennt. Vielleicht ist Mandys Mutter ja die bessere
Lehrerin!? Frau Ernst zweifelt, vermutet aber, dass Mandy zu Hause vermutlich
viel pädagogischer behandelt wird als sie es gelernt hat – das beruhigt sie!
Was
bleibt als Lektion für Frau Ernst? Ein anständiger Schüler braucht ein Handy,
das ihm oder ihr rund um die Uhr zur Verfügung steht. Ohne ein entsprechendes
Gerät sind Schüler heutzutage gehandycapt. Frau Ernst schämt sich ein bisschen,
dass Sie das in ihren vielen Dienstjahren immer noch nicht verstanden hat. Sie
wird Mandy morgen um Verzeihung bitten ...