Freitag, 22. März 2013

Gehandycapt



Der Schultag beginnt, müde Schülerinnen und Schüler schlürfen ins Schulhaus. Dass die Füße noch schwerer als im Laufe des Tages sind, ist nicht zu überhören. Gemeinsam mit dem Streugut der Straßen wird das Haus von Geräuschen gefüllt, die vermuten lassen könnten, dass eine Großviehherde durchs Gebäude getrieben wird.
Die Köpfe der Jugendlichen scheinen noch im Stand-by-Modus zu sein, zumal die Aufsicht führenden Lehrerinnen und Lehrer daran erinnern müssen, dass gemäß Hausordnung jegliche Kommunikationstechnik auf dem Schulgelände unsichtbar bleiben soll.
Auch Mandy hat das Schulgebäude betreten, ist aber von der Aufsicht offenbar nicht gesehen und dadurch nicht erinnert worden. Also bleiben die Stöpsel der Dauerbeschallung im Ohr und sie schlendert gemächlich zu ihrem Klassenraum. Im zweiten Stock, zwei, drei Meter vor dem Klassenraum begegnet sie Frau Ernst. Diese beobachtet, wie Mandy mit ihrem Handy hantiert, offenbar, um den nächsten Titel auszusuchen.
Nachdem Mandy auf das Rufen ihres Namens nicht reagiert, macht Frau Ernst mit einem Griff an Mandys Schulter auf sich aufmerksam. Mandy dreht sich um und sieht in Frau Ernsts geöffnete, fordernde Hand. Genervt zieht Mandy einen Stöpsel aus ihrem Ohr und fragt vorwurfsvoll: „... hä? Was soll das denn jetzt?“ Frau Ernst rollt einmal innerlich die Augen, ahnt sie doch, dass jetzt ein bereits tausende von Malen stattgefundenes Wortgefecht folgen wird. „Du kennst die Hausordnung ... dein Handy und die Ohrstöpsel bitte!“ „Was haben Sie denn für ein Problem, ich gebe ihnen gar nichts.“ Als hätte Frau Ernst einen persönlichen Rachefeldzug gegen Mandy – und NUR gegen sie – geplant, guckt sie ihr hasserfüllt in die Augen; dabei hat Frau Ernst sie gar nicht im Unterricht, sondern wollte eigentlich nur ihren Job machen.
Frau Ernst ist noch nicht lange an dieser Schule, weiß aber dennoch, dass – wie an den meisten Schulen heutzutage – während des Schultages Handyfreiheit gilt. Einzig Mandy scheint das nicht zu wissen, zumindest nimmt sie all ihr schauspielerisches Talent zusammen, um Frau Ernst glauben zu machen, dass SIE im Irrtum sei und sie Mandy gar nicht diesbezüglich belästigen dürfe.
Frau Ernst ist sehr konsequent in solchen Dingen und so entlässt sie Mandy nicht aus der Situation und steht nach wie vor das Handy fordernd vor ihr. Ganz ruhig wiederholt sie ihre Aufforderung: „Gibst du mir jetzt bitte dein Handy und die Ohrstöpsel?“ „OOaaaaarrrgghh, was wollen sie von mir? Da ... bitte ... ich pack das Handy ein ... jetzt zufrieden? faucht Mandy weiter.

Wieder einmal geht dieser Film vor Frau Ernsts innerem Auge ab: ‚Wie kann das sein, dass unsere Eltern und wir ohne Handy groß geworden sind? Wie haben wir das nur geschafft? Eigentlich leben wir gar nicht, wenn man sich die Jugendlichen heutzutage ansieht: Denn folgt man der Argumentationsweise der Jugendlichen, dann gibt es mannigfaltige Szenarien, die den Umgang mit dem Mobiltelefon nicht nur rechtfertigen, sondern aus deren Sicht sogar unumgänglich machen: Sei es der Blick auf die Uhr, der Hinweis, dass man auf eine dringende Nachricht warte oder die Ausrede, dass man den Taschenrechner bräuchte; ohne Handy geht heutzutage bei Jugendlichen gar nichts mehr.

Frau Ernst wird zurück in die Situation geholt, denn Mandy fühlt sich inzwischen noch mutiger. Eine kleine Traube müder, aber stets sensationslüsterner Schülerinnen und Schüler hat sich gebildet, die dem Kampf um die Trophäe beiwohnen wollen. Frau Ernst gibt keinen Zentimeter nach: „Wir können jetzt hier noch lange stehen, ich habe in der ersten Stunde keinen Unterricht, also hab ich Zeit ...“ Mandys Gesichtsfarbe nähert sich einem leuchtenden Purpur, bevor sie wutschnaubend das Handy rausrückt. Selbstverständlich tut sie dieses nicht, ohne noch eine abschließende Drohung auszurufen. „Das wird noch Folgen haben, das garantiere ich ihnen ...“

Was für eine Blöße sie sich da geben musst – unzumutbar. Schließlich ist es ein absolutes 'No-Go', sein Handy abzugeben. Freiwillig sowieso nicht - wen interessiert schon eine Hausordnung - und auch wenn man quasi gezwungen wird. Und jetzt? Sie wird später zur Schulleitung gehen und sie erstmal darüber belehren, was die Lehrer dürfen und was nicht, soviel ist sicher! Außerdem will sie ihr Handy wiederhaben. Schließlich hat sie es nur rausgegeben, weil sie wusste, dass in der ersten Stunde eine Arbeit geschrieben wird, nicht etwa, weil sie im Unrecht gewesen ist. Im Grund hat sie Frau Ernst lediglich erlaubt, das Handy "vorübergehend zur Aufbewahrung" im Sekretariat zu lassen. Spätestens nach der Schule ist das Handy gefälligst wieder auszuhandygen.

Schulschluss: Mandy will jetzt ihr Handy wiederhaben. Dummerweise ist das Sekretariat nicht mehr besetzt und so versucht sie es am Lehrerzimmer. Die Tür öffnet sich und Frau Hoffmann öffnet. Wie aus dem Nichts hervorgeholt und als kenne sie es gar nicht anders, flötet Mandy mit einem Lächeln auf den Lippen und in freundlichstem Ton: „Guten Tag Frau Hoffmann, ich musste heute Morgen mein Handy abgeben und wollte jetzt fragen, ob ich es bitte wiederhaben darf!?“ Frau Hoffmann fragt sich, ob es Mandy ist, die vor ihr steht, denn aus dem Physikunterricht kennt sie Mandy und ihre sonst nur rudimentär vorhandenen Höflichkeitsfloskeln.
„Tut mir leid, Mandy, aber wenn nebenan im Sekretariat keiner mehr ist, kann ich dir auch nicht weiterhelfen, wir bringen eingezogene Handys immer sofort in den Safe. Schlagartig wechselt die soeben noch überhöfliche Knigge-Schülerin ihre Charakterfarbe und findet auch den Farbton von heute früh wieder. Gleichzeitig spuckt Mandy verbales Ungeziefer aus, kehrt Frau Hoffmann unmittelbar den Rücken und zieht fluchend davon. Frau Hoffmann kennt das schon und so lässt sie die Tür ins Schloss fallen und Mandy ziehen.

Am selben Abend plagt Frau Ernst ihr schlechtes Gewissen, hat sie doch Mandy quasi ihr Herz rausgerissen. Sie hatte schon überlegt bei Mandy anzurufen und ihr zu sagen, dass Sie solange bis der Safe wieder geöffnet wird, ihres, Frau Ernsts Handy, haben könne. Aber irgendwie fehlen ihr die Worte. Glücklicherweise kommt ihr Mandys Mutter zuvor, indem sie eine lange Email schreibt. Da ihre Mutter in Sachen Rechtschreibung und Grammatik einen ähnlichen Schreibstil hat, kann Frau Ernst sie auch gleich verstehen, zumal ihre Mutter zum Glück schreibt, wie es wirklich war. Sie kennt viel mehr Details der Situtation als Frau Ernst, so dass sie also auch viel bessere Worte finden kann, als es Frau Ernst als Deutschlehrerin jemals vermocht hätte. Gut, dass Mandy so eine engagierte Mutter hat, die sich zudem so gut im Schulrecht auskennt. Vielleicht ist Mandys Mutter ja die bessere Lehrerin!? Frau Ernst zweifelt, vermutet aber, dass Mandy zu Hause vermutlich viel pädagogischer behandelt wird als sie es gelernt hat – das beruhigt sie!

Was bleibt als Lektion für Frau Ernst? Ein anständiger Schüler braucht ein Handy, das ihm oder ihr rund um die Uhr zur Verfügung steht. Ohne ein entsprechendes Gerät sind Schüler heutzutage gehandycapt. Frau Ernst schämt sich ein bisschen, dass Sie das in ihren vielen Dienstjahren immer noch nicht verstanden hat. Sie wird Mandy morgen um Verzeihung bitten ...

2 Kommentare:

  1. Du sprichst hier jedem Schüler aus dem Herzen!
    Ohne Handy ist der Alltag ein Graus!

    Toller Blog und eine wahre Geschichte!

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  2. Zuerst wird gesagt , dass sie neu als Lehrerin ist und gegen Ende blickt sie auf ihre vielen Dienstjahre ? Ich find die Geschichte schlecht.

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