Schule und Unterricht könnten so
schön sein ... wenn die Lehrer nicht wären. Ob viele Schüler solche Gedanken
haben? Wer jetzt an seine eigene Schulzeit zurückdenkt und diese Frage für
indiskutabel hält, hat lange nicht mehr einer Durchschnittsstunde in der
deutschen Schule beigewohnt. In einer solchen Stunde – z. B. bei Herrn
Krüger – könnte er ansonsten in etwa folgendes erleben:
Es klingelt. Zwei oder drei
Schüler einer neunten Klasse spielen auf dem Gang Fangen. Nein, sie sind nicht
zu alt dafür, zumindest merken sie das nicht. Stattdessen wird laut kreischend -
so, dass es möglichst für alle hörbar ist und ordentlich hallt - zwischen den
Säulen hin- und hergelaufen; der nahende Herr Krüger, der noch im Lehrerzimmer
aufgehalten wurde, wird gar nicht bemerkt. Er hingegen kann gar nicht anders, als sie zu bemerken, betritt jedoch davon unbeirrt die Klasse und schließt die Tür. Hätten die Schüler nicht in
immerhin zweieinhalb Jahren gemerkt, dass Herr Krüger mit dem Schließen der Tür
seinen Unterricht beginnen will, würden die Schüler weiterhin vor der Klasse
ihr Fangspiel fortsetzen.
So aber reißen sie die soeben von
Herrn Krüger geschlossene Tür wieder auf – selbstverständlich ohne sie nach
sich zu schließen. Warum auch? So fordern die verspätet eintreffenden Schüler
also schon das zweite Mal die Aufmerksamkeit des Lehrers mit der ersten
Ermahnung, die Tür zu schließen. Verwundert, dass die Tür sich nicht von
alleine geschlossen hat, guckt der letzte, angesprochene Schüler zuerst zur
Tür, dann zu Herrn Krüger und ist zunächst einmal ratlos. Schon hört man erneut
Herrn Krügers Stimme: „Kommt noch einer oder warum hast du die Tür
aufgelassen?“ Inzwischen hat sich der angesprochene Schüler aus seiner
Lethargie befreien können und findet eine neue Form des Ausdrucks: Er stöhnt
unendlich genervt ob der strapaziösen Bemerkung, dass er nun noch einmal
zurückgehen muss. Nachdem diese unendlich anstrengende Tätigkeit endlich
erledigt ist, trödelt der Betroffene langsam zu seinem Platz. Es sind
mittlerweile drei Minuten vergangen, wofür die an den Plätzen sitzenden äußerst
dankbar sind, bleibt so doch noch weitere Zeit zum Quatschen. Herr Krüger hat
vor einiger Zeit eingeführt, dass die Schüler zur Begrüßung aufstehen, ohne
außer Acht zu lassen, auf die Basics der Höflichkeit hinzuweisen: Blickkontakt,
kein schlaffes Anlehnen oder auf den Tisch stützen, keine Hände in den Hosentaschen,
kein Kaugummi im Mund, keine Mützen oder Schals oder Sportsachen oder
Handtaschen oder oder oder auf dem Tisch ...
Was der Krüger aber auch alles
will ... endlich hat er mit seinem Blick die Lage soweit eingefangen, dass er
glaubt, ein lautes „Guten Morgen“ in die Klasse rufen zu können, als erneut die
Tür aufgerissen wird. Zwei Mädchen kommen herein. Eine entschuldigt sich nicht,
die andere blubbert ein schnelles „ich war noch auf dem Klo ...“ in Richtung
Lehrerpult und schließt immerhin ausnahmsweise die Tür. Beide huschen aber im
Übrigen ohne auf eine Reaktion zu warten, an ihren Platz. Herr Krüger erinnert
sich, dass er die beiden in der großen Pause wild knutschend vor einer der
Nachbarklassen in einiger Entfernung auf dem Flur aus dem Augenwinkel bemerkt
hatte. – Alles klar, das ist natürlich wichtiger! Die halbe Klasse lacht, hat
sie doch die Mimik von Herrn Krüger bemerkt, der eine kurze Kuschelpose
nachstellt, während die Mädels durch den Gang nach hinten huschen und ihn nicht
sehen. Manchmal kann sich das auch ein Lehrer nicht verkneifen, zumal er
aufpassen muss, nicht das Unterrichtsziel aufzugeben, weil die Stunde schon am Einstieg
und einer halbwegs vernünftigen Begrüßung scheitert.
Nachdem nun mittlerweile acht
Minuten verloren gegangen sind, ist nun auch endlich eine Begrüßung möglich,
die – von Herrn Krüger initiiert - natürlich nur von den Strebern erwidert wird.
Alle anderen Schüler warten nur gelangweilt, dass diese völlig überflüssige
Zeremonie über die Bühne gegangen ist, um sich dann möglichst geräuschvoll zu
setzen und wieder in die üblichen Privatgespräche einzusteigen. „Ich möchte
heute nach einer kurzen Wiederholung mit euch über das Problem reden ...“,
beginnt Herr Krüger, da geht bereits Nadines Finger hoch. Aus der Intention der
Höflichkeit nimmt Herr Krüger Nadine ran: „Fällt heute die 7. Stunde aus?“ Die
Schüler, die sich gerade gedanklich auf das zu erwartende Problem eingestellt
haben, lachen, weil Nadine es offenbar nicht gemerkt hat und damit natürlich
den Faden, den Herr Krüger zu spinnen im Begriff war, rücksichtslos und
unüberlegt abgeschnitten hat. Herr Krüger ignoriert nun doch Nadines Frage und
wiederholt seine Einleitung: „Also, nochmal: Ich möchte heute mit euch ...“
Nadine hebt entrüstet die Hand. Sie dreht sich Zustimmung und Publikum suchend
in die Klasse: „Hä ... ich hab doch ganz normal gefragt, warum antwortet der
mir nicht?“ Sie versteht es anscheinend wirklich nicht, was zwei, drei
Mitschüler der unmittelbaren Nachbarschaft merken und sich sofort bereitwillig
auf den Nebenschauplatz begeben. Herr Krüger wirft eine Ermahnung in Richtung
von Nadines Sitznachbarin: „Hey, nicht jetzt.“ „Aber“, entgegnet Nadines
Nachbarin, „sie hat mich doch was gefragt ...“
Herr Krüger gibt auf, verlässt
mit seinen Augen den Schauplatz rund um Nadine und wendet sich wieder dem
übrigen Plenum zu: „Bitte erledigt die Aufgaben 5 und 6 des Arbeitsblattes aus
der letzten Stunde.“ Sofort setzt ein verbales Treiben ein, was darauf
schließen lässt, dass sogar das Hervorholen des Arbeitsblattes erst einmal mit
dem Nachbarn diskutiert werden muss. Schließlich hat der Lehrer nichts zu
sagen, sondern kann maximal Aufgaben anbieten, die man bearbeiten kann.
Der Rest der Stunde scheint nur noch auf der Basis der Freiwilligkeit
abzulaufen, wobei sich die Schüler an folgenden Grundsätzen zu orientieren
scheinen:
- Oberstes Recht der Schüler während der Schulzeit ist es, zu jedem Zeitpunkt ungehindert zu kommunizieren.
- Ferner hat jeder Schüler das Recht, jede Anordnung und jede Aufgabe einer Lehrkraft in Frage zu stellen.
- Die Pflichten der Schüler beschränken sich auf die physische Anwesenheit. Weitere Pflichten werden nur bei Wohlwollen von Schülerseite und dann auch eher als ein Entgegenkommen, denn als Pflicht erfüllt.
Na dann: Willkommen in der Schule 2013!