Montag, 27. April 2015

Knigge, ade!



„Panta rei“ sagt der Grieche, um zu beschreiben, das alles im Fluss und alles im Wandel ist. Natürlich trifft das auch auf Schule zu. Wenn man an früher denkt, assoziieren viele die Feuerzangenbowle, strenge Lehrer, festgeschraubte und hölzerne Schulbänke (damals waren es wirklich noch Bänke), höchste Disziplin und Lehrerautorität.
Und heute? Von wegen! Heute stehen an den eben benannten Stellen häufig lockere Lehrer, Stühle aus Plastik, wenig Disziplin und Frechheiten.
Was ist passiert? Nun, ‚es floss‘. Schule hat sich einfach gewandelt: Das Mobiliar, der Job des Lehrers, Respekt und Disziplin. Leider sind diverse Verhaltensweisen, über die Herr Knigge seinerzeit ein Buch schrieb abhanden gekommen.
Nehmen wir einen Tag aus dem Schulalltag von Herrn Krüger. Morgens betritt er das Foyer des Schulgebäudes, in dessen Abtrittsmattendoppeltürschleuse bereits eine Handvoll Schüler – überwiegend still und über ihr Handy gebeugt – wartet. Vermutlich ist eben dieses die Ursache dafür, dass Herr Krüger auf sein lautes „Guten Morgen“ nur eine leise, wenn überhaupt eine Antwort bekommt. „Na ja, sie sind wohl noch ziemlich müde“, murmelt Herr Krüger vor sich hin und wendet sich Richtung Lehrerzimmer. Dort hängt er seine Jacke über den Haken des Garderobenständers, klappert kurz die üblichen Punkte – Postfach, Schwarzes Brett sowie seinen Platz – ab und macht sich dann bereits auf den Weg in den relativ weit weg gelegenen Klassenraum. Mittlerweile sind einige Schüler im Haus. An der nächsten Glastür kommen ihm vier Schüler entgegen. Selbstverständlich wartet Herr Krüger bis alle Schüler grußlos passiert haben, bevor er es wagt, die Tür in der Gegenrichtung zu passieren. Ist ja auch klar, er ist nur der Dienstleister, die Kids sind die Kunden ... O.k., Erwachsenen an der Tür den Vortritt zu lassen, scheint nicht mehr angesagt zu sein.
In seiner Klasse angekommen, hat er nicht viel Zeit seine Materialien bereitzulegen, denn dort kommen bereits die ersten beiden Mädchen aus deiner Klasse auf ihn zu: „Haben Sie die Tests korrigiert?“ „Guten Morgen ... nein, das habe ich noch nicht geschafft, aber bis nächste Woche will ich’s geschafft haben.“ „Häää, echt nicht? Aber ich wollte gerne heute wissen, was ich geschrieben hab.“ Wie – die Begrüßung zu Gesprächsbeginn ist auch abgeschafft worden?
Zur Begrüßung der schließlich gesamten Klasse hängen die Schüler halb auf den Stühlen, halb auf dem Tisch abgestützt, zwei Jungen haben noch ihr Basecap auf dem Kopf, drei kauen Kaugummi. Genervt in der Gegend rumguckend warten sie darauf, wie nasse Säcke wieder auf die Sitzflächen prallen zu können. Verstanden, Körperspannung und Höflichkeitsmindeststandards sind ebenso abgeschrieben worden.
Als der Unterricht beginnt und Herr Krüger wiederholend einleitet „Erinnert euch bitte an die letzte Stunde. Könnt ihr mir einige Punkte nennen, die von Bedeutung sind, wenn man die Veränderungen im Nahen Osten zwischen 1950 und heute ansieht?“ kommt ein plumpes „Öl!“ als Antwort von irgendwoher. „Entschuldigung, kann in dieser Klasse schon jemand ganze Sätze sprechen?“ „Wegen Erdöl“ ruft Heidi rein. „Hey, ihr könnt schon Zwei-Wort-Sätze, super!“ ulkt Herr Krüger und notiert auf seiner Lost-List: Melden und in ganzen Sätzen sprechen: Abgeschafft!
Ist auch was dazugekommen? Ja, ein paar Neuerungen haben die Schullandschaft erobert:
Die Gespräche sind persönlicher geworden. Schüler wenden sich häufiger an Lehrer als Ratgeber in persönlichen Angelegenheiten als früher. Dabei wird es oft sehr persönlich, mitunter ZU persönlich, wie kürzlich Kollegin Knick erfuhr. Eh sie sich’s versah, erzählte ihr Antonia, dass sie demnächst eine Abtreibung hat, weil ihr Freund das letzte Mal keine Kondome dabeihatte und aufpassen wollte bis sie dann ihre Tage nicht bekam ... Ja, sie sind persönlicher geworden, die Kids von 2015. Nur – will man das immer alles so dezidiert wissen?

Donnerstag, 23. April 2015

Oktopus


Ein typischer Montag. Der Stundenplan ist nonstop gefüllt und Herr Krüger darf die letzte Stunde – es ist mittlerweile die achte Stunde und 14 Uhr, also mitten im physiologischen Leistungstief des Menschen – in seiner siebten Klasse unterrichten. Dies ist, wie er schon oft erfahren konnte, die Höchststrafe, weil die Kids bereits sieben Stunden mehr oder weniger still sitzen mussten und dann ... schlägt für Herrn Krüger montags häufig die letzte Stunde.

Dann noch Geografie zu unterrichten ist eigentlich unmöglich; Herr Krüger kann schon froh sein, wenn die Schüler dann überhaupt das Datum mitbekommen und ein rotes Kreuz in den Kalender machen, falls sie es aufgeschrieben haben sollten. Dennoch bemüht er sich auch an diesem Montag, Inhalte zu vermitteln. Heute soll es um den kompetenten Umgang mit dem Atlas gehen, um das Finden der richtigen Karte usw. Doch so sehr sich Herr Krüger auch bemüht, es ist keine echte Arbeitsatmosphäre in die Klasse zu bekommen. Zu quirlig ist der Haufen seiner Siebtklässler und zu viele Störungen geschehen gleichzeitig, sodass er nicht überall und zum selben Zeitpunkt ermahnen und für Ruhe sorgen kann. Er kann gar nicht so schnell gucken, geschweige denn reagieren, wie seine Schüler dieses verlangen. Mitunter fordert der Job von Herrn Krüger ja auch Handgreiflichkeiten, etwa dann, wenn es darum geht, Maßnahmen durchzusetzen. Dies kann das bloße Umsetzen des Arbeitsmaterials an einen Extratisch sein, wenn der betroffene Schüler sich umsetzen soll, oder im Rahmen der Veränderung der Tischordnung, wenn der Lehrer mit zupackt.

In dieser schwierigen achten Stunde hatten natürlich nicht alle Schüler ihre Bücher dabei, sodass wieder einmal der berühmte ‚Plan B‘ hermusste: ein Buch pro Tisch und Zusammensetzungen, die nicht selten Nebenwirkungen haben, zu denen man keinen Arzt oder Apotheker befragen kann.

Als Herr Krüger merkt, dass er leider nur zwei und nicht acht Arme hat, kommt ihm eine Idee, wie dem vielleicht Abhilfe geschaffen werden könnte: Wäre es wohl möglich, Oktopoden zu züchten und diese in den Unterricht zu holen? Auf dem Kopf der Achtfüßer könnte sich jeweils ein Chamäleon niederlassen, das – um nicht aufzufallen – seine Farbe dementsprechend natürlich anpasst, als Beobachter aber die ideale Ergänzung ist, weil es seine Augen unabhängig voneinander bewegen kann und die Schüler so besser im Blick hätte (auch wenn sich Herr Krüger mittlerweile einen Panoramablick angeeignet hat). Und da Oktopoden als sehr intelligent gelten, könnte man sie zweifelsohne als Unterrichtshilfe für zahlreiche Aufgaben ausbilden:

Notwendige Zwangsumsetzungen wären z. B. leicht auszuführen, weil der Krake die Schüler mit seinen Saugnäpfen problemlos am Kopf packen, kurz durch die Luft wirbeln und dann woanders absetzen könnte. Herrn Krüger begeistert seine Idee. Heute hätte der Oktopus auf sein Geheiß z. B. Marco den Kopf verdreht. Nicht, weil dieser sich verliebt hätte, sondern um ihn wieder auf sein Blatt gucken zu lassen, von dem er viel zu oft aufschaut und dann sogenanntes ‚Leuchtturmverhalten‘ zeigt. Dieses ist daran zu erkennen, dass sich der Kopf fortwährend dreht und dreht, immer mit der Maßgabe, alle zu erreichen und keine Ecke des Raumes zu übersehen.

Der Oktopus hätte bei seiner Auswahl hier garantiert immer irgendeinen Arm freigehabt. Zeitgleich hätte heute ein anderer Arm einen Atlas von Heidis auf Piets Tisch gelegt, weil dieser seinen vergessen hat, Heidi sich aber aus purer Opposition weigert, ihren Piet zu leihen. Die Arme drei und vier hätten am Tisch vorn ausgeholfen, an dem Marlon und Hakan hilflos im Atlas blättern ohne die richtige Karte zu finden. Arm fünf hätte den eigenen Tintenvorrat angezapft, um Pierres Füller zu betanken. Arm sechs und sieben hätten mit ihren starken Saugnäpfen zwei Tischgruppen zusammengestellt, um der akuten Buchnot zu begegnen. Arm acht hätte sich mit Arm eins abgewechselt, um verschiedene Schüler mit Leuchtturmstörungen wieder einzunorden.

Und das alles ... gleichzeitig! Toll! Herr Krüger hätte Zeit für die Notengebung, kleine Hilfestellungen und könnte sich womöglich sogar leisten, mitten im Unterricht einen Kaffee zu trinken. Selbstverständlich bliebe auch ausreichend Zeit, um dem arbeitenden Weichtier hin und wieder das ein oder andere Beutetier zu reichen. Herr Krüger beschließt, das in der nächsten Gesamtkonferenz vorzuschlagen.

Montag, 20. April 2015

Noch weniger alleine



Schon vor ein paar Wochen hatte Herr Krüger gedacht, dass Wochenenden ganz ihm gehören bzw. er unbehelligt und vor allem unbeschadet Kinobesuche wagen kann. Aber gerade, was das ‚unbeschadet‘ betrifft, muss er eine andere Erfahrung machen, die ihn eines besseren belehrt; erst neulich im Kino und heute, als er am Donnerstagmorgen zur Schule fährt. Die Strecke kennt sein Auto inzwischen schon im Schlaf und fährt sie von ganz alleine – praktisch sowas!

Herr Krüger ist da eigentlich nur noch der Beobachter, wie man diese Strecke am besten bewältigt, denn ein paar Hürden gibt es zu nehmen. Zunächst ist da die Baustelle, an der die Straße einspurig wird, dann folgt die Schule in der 30er-Zone, in der all die Vatis und Muttis zeigen, was man so Verkehrstörendes mit Autos machen kann: nicht blinken, schlecht parken, über die Straße hinweg bei geöffneter Autotür diskutieren, umständlich über beide Spuren eine 7-Punkt-Wendung versuchen usw. Schließlich ist da dann noch einen Kilometer später eine zweite 30er-Zone, ein bisschen nervig, wenn man morgens in Eile ist, aber ist halt so. Obwohl diese Zone nach einer bestimmten Kreuzung zu Ende ist, gibt es immer wieder Autofahrer, die dieses nicht sehen und im Schneckentempo bleiben. So auch heute und Herr Krüger fängt an, vor sich hinzumeckern: „Jetzt fahr doch mal ... kann doch nicht so schwer sein, nach den Verkehrsregeln zu fahren und den Verkehrsfluss NICHT zu behindern ...“

Mal rechts, mal links am behindernden Toyota Yaris vorbeischielend analysiert Herr Krüger, wer wohl am Steuer sitzt. Er sieht nicht viel, aber immerhin genug, um zu schlussfolgern, dass es sich um eine junge, weibliche Fahrerin handelt. Einen Beifahrer scheint es auch zu geben, er sieht männlich aus, wie Herr Krüger aus der Kurzhaarfrisur schließt, die nicht an der Kopfstütze ab und zu beim Kopfdrehen als Pferdeschwanz vorbeibaumelt.

„Endlich“ ... Herr Krüger kann überholen und wirft einen neugierigen Blick nach rechts, als er überholt. Er hatte Recht, ein junges Mädel sitzt am Steuer, daneben ... ja, eindeutig der Papa, wobei ... ups ... Herr Krüger guckt schnell ein bisschen weiter nach links, als er noch einmal die Fahrerin mustert und eine Schülerin erkennt, die schüchtern und vorsichtig zur Schule kriecht, bevor Papa vermutlich weiter zur Arbeit braust – irgendwie muss er die durch die Fahrweise seiner Tochter verlorene Zeit ja aufholen. Herr Krüger lässt die Schülerin hinter sich und hat zum Glück geparkt, als er beim Passieren des Schultors sieht, wie sie langsam heranrollt.

Zwei Tage später. Herr Krüger hat einen kurzen Tag. Er muss nur zwei Stunden unterrichten und verlässt die Schule noch am Vormittag. Als er sich über den Kofferraum seines an der Straße geparkten Beatles beugt und seine Schulsachen verstaut, merkt er, wie ein Auto neben ihm auf der Straße hält und das Fenster herunterlässt. Laute Musik – irgendein modernes Technozeug – dringt an sein Ohr. ‚Bitte lass es keinen Schüler sein, der angeben will ...‘ fleht Herr Krüger leise, als „Hallo Herr Krüger ...“ ihn dazu zwingt, nun doch den Kopf nach links zu drehen und den Gruß zu erwidern. Er erkennt Max, einen seiner Oberstufenschüler, der zwar im Unterricht kaum was sagt, an diesem Morgen aber definitiv angeben wollte, dass er einen Mercedes 190 fährt. Nicht gerade das neuste Modell, aber immerhin keinen Kleinwagen. Max grinst breit und dreht nachsichtig die Lautstärke seines Autoradios zurück, aber zum Glück kommt ein Auto hinter Max, sodass er weiterfahren und Herr Krüger nicht weiter mit ihm Smalltalk betreiben muss.

Dass seine Schüler jetzt auch alle mit dem Autofahren anfangen und Herr Krüger damit nicht mehr die Schule hinter sich lassen und wegfahren kann, sondern immer damit rechnen muss, dass auf offener Straße ... eine Schülerin oder ein Schüler mit seinem Auto querschießen kann, beunruhigt Herrn Krüger, weiß er doch, wie wenig erwachsen manche seiner Schützlinge noch sind. Und ob das dann mehr Sicherheit für Kinder bringt ...


Kino ohne Schüler geht nicht mehr, Autofahren nun also auch nicht mehr. Ob es noch mehr gibt, was Herr Krüger nicht mehr ohne Schüler machen kann?

Dienstag, 14. April 2015

Erste Schultage



Am ersten Schultag nach Ferien Unterricht zu machen, ist eine Illusion. Herr Krüger hat sich zwar extra früh auf den Weg gemacht, um die in den Ferien vorgearbeiteten Materialien zu kopieren und bereitzustellen, aber er hatte natürlich die Rechnung ohne den Wirt gemacht, kurz: Er hat die Schülerperspektive bei seinen Planungen nicht ausreichend berücksichtigt.

Noch entspannt, betritt er 10 Minuten vor dem Unterricht den Klassenraum, um sich endlich mal in Ruhe einzurichten und alles optimal vorbereitet zu haben, der Lärmpegel ist bereits beträchtlich, aber Herr Krüger wagt es dennoch, an das Gute im Schüler und daran zu glauben, dass sich dieses mit Unterrichtsbeginn ändert.

Als die Stunde beginnt, ist es zur Begrüßung kurz ruhig – dieses Ritual scheint doch etabliert zu sein – aber dann ist es wie immer bzw. noch schlimmer. Herr Krüger drückt auf 'PLAY' am PC und ein Video erscheint, das er eigens mit anderen Schülern an einer anderen Schule gedreht hat – nur für diesen Einstieg. Kaum sind fünf Sekunden vergangen – der Ton des Films ist schlecht und man müsste eigentlich besonders leise sein – gibt es ein halbes Dutzend Schüler, die unentwegt kommentieren, kommentieren, kommentieren. Als Herr Krüger nach Filmende fragt: „Und? Worum geht’s in dem Film?“ lautet die Antwort: „Wir haben nichts verstanden.“ „Aber dann müsst ihr doch mal zuhören ...“ „Herr Krüger, Sie müssen das verstehen. Wir haben uns zwei Wochen lang nicht gesehen, da ist doch logisch, dass wir quatschen müssen!“

Immerhin - nachdem sich glücklicherweise doch noch einige Schüler gefunden haben, die etwas verstanden zu haben scheinen, gelingt es Herrn Krüger, die Schüler in die Arbeitsphase zu schicken; ein Etappensieg! Doch neue Beobachtungen lassen ihn zweifeln, ob es so eine gute Entscheidung war, direkt am Montagmorgen um 08.00 Uhr mit dem Unterricht weitermachen zu wollen. 
Als es nämlich darum geht, Arbeitsblätter zu bearbeiten, beobachtet Herr Krüger, wie Marlon unbeholfen an seiner Federtasche rumfummelt. Als hätte er noch nie einen Reißverschluss bedient, nestelt er unbeholfen an seiner Federtasche herum. Zwei Plätze weiter guckt Isabelle ihren Hefter an, als hätte sie ihn noch nie gesehen. Keine Spur von Erfahrung, keinerlei Routine aus den letzten sieben Jahren Umgang mit Schulmaterialien. Die gänzlich anders angedachte Gruppenarbeit kommt der Klasse 8b ganz gelegen, denn so können sie sich jederzeit unterhalten – fachfremd, versteht sich.

Beim Herumgehen entdeckt Herr Krüger, dass Pierre kein einziges Geografie-Utensil, aber auch weder Federtasche noch Hefter, Block oder ähnliches dabeihat. Auf Herrn Krügers Nachfrage, wo diese Materialien denn seien, erhält er ein trockenes: „Es waren Ferien, deshalb haben wir kein Material dabei. Wir wussten ja nicht, dass wir gleich am ersten Schultag schon wieder unsere Schulsachen brauchen.“

‚Willkommen zurück im ganz normalen Schulalltagswahnsinn!‘ sagt Herr Krüger zu sich selbst und nimmt sich zum Stundenende vor, seine Konzepte für erste Stunden nach irgendwelchen Ferien grundsätzlich zu überdenken.

Donnerstag, 2. April 2015

Und wenn Ferien sind?

Was passiert eigentlich schulmäßig in den Ferien? Diese Frage kann man aus unterschiedlicher Perspektive beantworten. Herr Krüger hat eigentlich immer erstmal ein paar Tage damit zu tun, das Liegengebliebene abzuarbeiten, die schneller als Bambus wachsende Ablage wegzusortieren und noch ein paar vor Ferienbeginn geschriebene Arbeiten zu korrigieren. Damit gehört er – wie viele Kolleginnen und Kollegen – definitiv nicht zu der Spezies, die mit Ferienbeginn alles fallen lässt und sich das nächste Mal mit Schule beschäftigt, wenn diese an einem Montagmorgen wieder beginnt. Manche Lehrer – und auch zu diesen gehört Herr Krüger – schreiben Schulgeschichten und stellen sie in ihren Blog mit dem Ziel, anderen Lehrern aus der Seele zu sprechen, den einen oder anderen Elternteil zustimmend nicken zu lassen oder auch einen themenbezogenen Kommentar zu erhalten ...

Aber was machen derweil die Schüler, die die Lehrer so unerbittlich auf Trab halten? Viele langweilen sich. Eigentlich fragt Herr Krüger oft nach den Ferien, wer was gemacht hat und wo sie verreist waren. Das Ergebnis lautete nicht selten: „Wir waren zu Hause und ich war einmal bei Oma in Charlottenburg.“ „Und?“ hatte Herr Krüger immer wieder gefragt „Habt ihr was Tolles gemacht?“ Oft hörte Herr Krüger dann nur etwas von Langeweile, nichts los oder so.

Damit ist klar: Die Schule ist eigentlich eine Begegnungsstätte oder wird zumindest von vielen Schülern so empfunden. Es ist die Parallelwelt zu ihrer eigentlichen, der virtuellen Welt. Würde man eine Statistik schreiben, wäre es spannend, die virtuellen Zeiten den realen gegenüberzustellen. Herr Krüger weiß nicht besonders viel über die virtuellen Schülerwelten. Natürlich fallen immer wieder Begriffe wie ‚facebook‘, ‚Instagram‘ usw.; aber wer was wann und wie oft macht, entzieht sich definitiv seiner Kenntnis.

Gibt es dort auch virtuelle Klassenräume oder eine virtuelle Schule? Oder gibt es immer nur die Räume, in denen sich Schüler belangloses Zeug schreiben, sich gegenseitig Sprüche an den Kopf werfen oder Halbwahrheiten verbreiten? Irgendwann hat Herr Krüger auch was gehört, was wohl mehr in die Spielkategorie gehört, vielleicht ja aber auch vernetzt gespielt werden kann. Ganze Farmen sollen virtuell bewirtschaftet werden können. Warum also sollten Schüler nicht in den Ferien – wenn die Eltern ihnen kein Rundum-Sorglos-Paket in einer Hotelanlage gehobenen Niveaus kredenzen – komplett in ihrer virtuellen Welt eintauchen? Das wäre dann also Urlaub von der realen Welt. Und, fragt sich Herr Krüger weiter, was zählt eigentlich mehr? Die reale oder die virtuelle Welt? Wenn die virtuelle Welt nicht so zählen würde, könnten die Kids dort alles machen, was sie wollen:

Häuser bauen ohne Geld, Autofahren ohne Führerschein, Rumpöbeln ohne anschließende Dresche, Schule ohne Lernen, Beziehungen ohne Verbindlichkeit, Worte ohne anstrengende Nuancen der Körpersprache ... praktisch, diese virtuelle Welt. Oder doch nicht?

Vielleicht ist es ja aber auch ganz anders in dieser virtuellen Welt, in die die Schüler tagtäglich scheinbar länger über ihr Handydisplay eintauchen als in die Augen ihrer Mitmenschen!? Herr Krüger weiß es nicht, ist aber ja auch kein Teenager mehr, der dieses Doppelleben führen muss. Muss? Eigentlich schon, denn sonst besteht ja immer die Gefahr, dass man nicht ausreichend ‚dazugehört‘. Aber nach den diesjährigen Osterferien muss Herr Krüger mal glatt fragen, wie es konkret so in der virtuellen Parallelwelt läuft und wie man so ein offenes Doppelleben führt ...!?