Eigentlich ist eine Schule ein
Tummelplatz für Soziologen. Sie könnten empirische Daten erheben, die das
gesamte Konzept zur Datenspeicherung,
das immer wieder Politik und Öffentlichkeit beschäftigt, komplett übern Haufen
werfen könnte. Ein Großteil Beobachtungen, die die Soziologen machen würden,
würden sich wiederholen, doch immer wieder würden auch Verhaltensweisen
beobachtet werden, die zu keinem der vorher festgelegten Items passen würden.
„Herr Krüger ... kann ich
austeilen?“ Michelle ist ganz heiß darauf, Herrn Krüger zu helfen. Dieser freut
sich jedoch, wenn sie Spaß daran hat und so drückt er ihr einen Stapel Papier
in die Hand, denn Arbeitsaufträge sind klar und die Schülerinnen und Schüler
können eigentlich loslegen. Manchmal teilt Herr Krüger die Arbeitsblätter
bewusst selbst aus. Das bedeutet für ihn zwar mehr Arbeit, ermöglicht es ihm
aber, einmal mehr eine Vorbildposition einzunehmen und zu jedem ausgeteilten
Arbeitsblatt ein „bitte sehr“ hinzuzufügen. Weil Michelle das aber nun heute
macht, zieht sich Herr Krüger in die Beobachtungsposition zurück und lässt
seinen Blick über seine Schüler streifen. Nach kurzer Zeit wird deutlich, dass
Schüler eine Weile brauchen, bevor sie tatsächlich mit der Arbeit beginnen.
Da Herr Krüger Gruppenarbeit vorgesehen
hat, müssen sich einige Schüler umdrehen, um ihren Gruppenpartnern gegenüber zu
sitzen. Grundsätzlich kein Problem, aber dennoch sieht Herr Krüger Marco
plötzlich einen Stuhl durch den Raum schleppen. „Marco, warum ...“ „Ich muss meinen
Stuhl austauschen, weil der hier quietscht. Unterwegs bleibt Marco an zwei
Rucksackschlaufen hängen, sodass die Marcos Weg säumenden Schüler ihn skeptisch
beobachten. „Jetzt pass doch auf!“ „Was soll ich denn machen, wenn es hier so
eng ist“ verteidigt sich Marco. Währenddessen setzt sich Pierre erst mal wieder
sein Basecap auf, das ihm begegnet, als er seinen Hefter aus seinem Rucksack
kramt. Wieder muss Herr Krüger ran: „Pierre ...“ „Ich hab nur ...“ „Setz sie
einfach ab!“ kürzt Herr Krüger ab.
Endlich sitzen alle auf ihren
Plätzen und man sollte eigentlich meinen, dass es still wird und alle nun auf
ihren Blättern kritzeln, aber denkste! Herrn Krüger fallen Alfons und Marlon auf.
Alfons hat einen Zettel auf seinem Tisch und einen Füller in der Hand, aber ...
nichts passiert. Er schaut nach rechts zu seinem Tischnachbarn und tut nichts.
Immerhin - Marlon arbeitet, aber Alfons ... „Warum arbeitest du nicht, Alfons?“
„Ich kann nicht, Herr Krüger, ich kann nicht auf das Infoblatt gucken.“ (Das
Infoblatt liegt rechts von Marlon.) Marlon bekommt das mit reißt das Infoblatt
hoch und knallt es nun links von sich auf den Tisch. „Warum hast du Marlon
nicht einfach gefragt?“ zieht Herr Krüger die Augenbrauen hoch? „Ich wollte ihn
nicht stören ...“ ‚Ohne Worte‘ denkt sich Herr Krüger und checkt kurz die
Arbeitshaltung der übrigen Schüler ab. Als sein Blick wieder bei Alfons landet,
arbeitet dieser immer noch nicht. Stattdessen fummelt er gerade an seinem
Füller rum, da die Tinte alle zu sein scheint. „Hat jemand Tinte ...?“ Die
ganze Klasse guckt auf. ‚Och nöö!‘ Herr Krüger seufzt. Eine Tintenpatrone
fliegt quer durch den Raum und landet zwei Meter neben Alfons. „Mann, pass doch
auf“ schimpft Christine genervt, weil sie sich als eine der wenigen wirklich in
ihre Arbeit vertieft hat. Alfons ist indessen aufgestanden und sucht die gelandete
Tinte. Schließlich hat er sie gefunden und kehrt gemächlich zu seinem Platz
zurück. Er schraubt wieder an seinem Füller rum und wechselt umständlich die
Patrone. Als er schließlich fertig ist, steht er auf, checkt kontrollierend Herrn
Krügers Blick, der alles aufmerksam beobachtet und hält, statt zu fragen, wie selbstverständlich
die Patrone hoch: „Ich werf‘ nur schnell die Patrone weg.“ An seinem Platz
angekommen wirft Alfons einen kurzen Blick auf sein Blatt, Marlon und den
Infotext, steht dann erneut auf und geht zu Herrn Krüger: „Kann ich mir die
Hände waschen?“ Er zeigt seine Hände, auf denen ganze drei kleine Tintenflecke
zu sehen sind. Blitzschnell zieht Herr Krüger ein Taschentuch vor: Das muss
reichen, die Hände kannst du dir in der Pause waschen.“ Nicht so ganz zufrieden
trottet Alfons auf seinen Platz zurück, wischt ein bisschen an seinen Händen
rum, knüllt das Taschentuch zusammen und wirft es Marlon auf sein Blatt. „Ey
... lass deinen Dreck bei dir ...“ Als Alfons Herrn Krügers Blick bemerkt,
rechtfertigt er sich mit Unschuldsmiene: „Ich hab das Taschentuch hier nur
hingelegt ...“ „Schon klar, Alfons, ich guck dir schon eine Weile zu und ich
hab sehr gute Augen ...“
Nach einem Blick auf seine
Armbanduhr erhebt Herr Krüger schließlich seine Stimme über die Klasse:
„Schreibt bitte den Satz zu Ende, damit ich euch sagen kann, wie es
weitergeht.“ Mit einem Seitenblick nimmt Herr Krüger Alfons wahr, der eine
‚Wie-soll-ich-denn-da-arbeiten-wenn-Sie-einem-so-wenig-Zeit-geben-Geste‘ macht.
Als Herr Krüger einen kurzen Kontrollgang durch die Klasse macht, zeigt sich,
dass Alfons gerademal das Datum auf sein Blatt geschrieben hat.
Und er fragt sich: ‚Sollte
Unterricht doch lieber in Einzelzellen wir früher im Sprachlabor stattfinden,
weil einige Schüler nicht zu Potte kommen?‘