Sonntag, 31. Mai 2015

Zu Potte kommen



Eigentlich ist eine Schule ein Tummelplatz für Soziologen. Sie könnten empirische Daten erheben, die das gesamte Konzept  zur Datenspeicherung, das immer wieder Politik und Öffentlichkeit beschäftigt, komplett übern Haufen werfen könnte. Ein Großteil Beobachtungen, die die Soziologen machen würden, würden sich wiederholen, doch immer wieder würden auch Verhaltensweisen beobachtet werden, die zu keinem der vorher festgelegten Items passen würden.

„Herr Krüger ... kann ich austeilen?“ Michelle ist ganz heiß darauf, Herrn Krüger zu helfen. Dieser freut sich jedoch, wenn sie Spaß daran hat und so drückt er ihr einen Stapel Papier in die Hand, denn Arbeitsaufträge sind klar und die Schülerinnen und Schüler können eigentlich loslegen. Manchmal teilt Herr Krüger die Arbeitsblätter bewusst selbst aus. Das bedeutet für ihn zwar mehr Arbeit, ermöglicht es ihm aber, einmal mehr eine Vorbildposition einzunehmen und zu jedem ausgeteilten Arbeitsblatt ein „bitte sehr“ hinzuzufügen. Weil Michelle das aber nun heute macht, zieht sich Herr Krüger in die Beobachtungsposition zurück und lässt seinen Blick über seine Schüler streifen. Nach kurzer Zeit wird deutlich, dass Schüler eine Weile brauchen, bevor sie tatsächlich mit der Arbeit beginnen.

Da Herr Krüger Gruppenarbeit vorgesehen hat, müssen sich einige Schüler umdrehen, um ihren Gruppenpartnern gegenüber zu sitzen. Grundsätzlich kein Problem, aber dennoch sieht Herr Krüger Marco plötzlich einen Stuhl durch den Raum schleppen. „Marco, warum ...“ „Ich muss meinen Stuhl austauschen, weil der hier quietscht. Unterwegs bleibt Marco an zwei Rucksackschlaufen hängen, sodass die Marcos Weg säumenden Schüler ihn skeptisch beobachten. „Jetzt pass doch auf!“ „Was soll ich denn machen, wenn es hier so eng ist“ verteidigt sich Marco. Währenddessen setzt sich Pierre erst mal wieder sein Basecap auf, das ihm begegnet, als er seinen Hefter aus seinem Rucksack kramt. Wieder muss Herr Krüger ran: „Pierre ...“ „Ich hab nur ...“ „Setz sie einfach ab!“ kürzt Herr Krüger ab.

Endlich sitzen alle auf ihren Plätzen und man sollte eigentlich meinen, dass es still wird und alle nun auf ihren Blättern kritzeln, aber denkste! Herrn Krüger fallen Alfons und Marlon auf. Alfons hat einen Zettel auf seinem Tisch und einen Füller in der Hand, aber ... nichts passiert. Er schaut nach rechts zu seinem Tischnachbarn und tut nichts. Immerhin - Marlon arbeitet, aber Alfons ... „Warum arbeitest du nicht, Alfons?“ „Ich kann nicht, Herr Krüger, ich kann nicht auf das Infoblatt gucken.“ (Das Infoblatt liegt rechts von Marlon.) Marlon bekommt das mit reißt das Infoblatt hoch und knallt es nun links von sich auf den Tisch. „Warum hast du Marlon nicht einfach gefragt?“ zieht Herr Krüger die Augenbrauen hoch? „Ich wollte ihn nicht stören ...“ ‚Ohne Worte‘ denkt sich Herr Krüger und checkt kurz die Arbeitshaltung der übrigen Schüler ab. Als sein Blick wieder bei Alfons landet, arbeitet dieser immer noch nicht. Stattdessen fummelt er gerade an seinem Füller rum, da die Tinte alle zu sein scheint. „Hat jemand Tinte ...?“ Die ganze Klasse guckt auf. ‚Och nöö!‘ Herr Krüger seufzt. Eine Tintenpatrone fliegt quer durch den Raum und landet zwei Meter neben Alfons. „Mann, pass doch auf“ schimpft Christine genervt, weil sie sich als eine der wenigen wirklich in ihre Arbeit vertieft hat. Alfons ist indessen aufgestanden und sucht die gelandete Tinte. Schließlich hat er sie gefunden und kehrt gemächlich zu seinem Platz zurück. Er schraubt wieder an seinem Füller rum und wechselt umständlich die Patrone. Als er schließlich fertig ist, steht er auf, checkt kontrollierend Herrn Krügers Blick, der alles aufmerksam beobachtet und hält, statt zu fragen, wie selbstverständlich die Patrone hoch: „Ich werf‘ nur schnell die Patrone weg.“ An seinem Platz angekommen wirft Alfons einen kurzen Blick auf sein Blatt, Marlon und den Infotext, steht dann erneut auf und geht zu Herrn Krüger: „Kann ich mir die Hände waschen?“ Er zeigt seine Hände, auf denen ganze drei kleine Tintenflecke zu sehen sind. Blitzschnell zieht Herr Krüger ein Taschentuch vor: Das muss reichen, die Hände kannst du dir in der Pause waschen.“ Nicht so ganz zufrieden trottet Alfons auf seinen Platz zurück, wischt ein bisschen an seinen Händen rum, knüllt das Taschentuch zusammen und wirft es Marlon auf sein Blatt. „Ey ... lass deinen Dreck bei dir ...“ Als Alfons Herrn Krügers Blick bemerkt, rechtfertigt er sich mit Unschuldsmiene: „Ich hab das Taschentuch hier nur hingelegt ...“ „Schon klar, Alfons, ich guck dir schon eine Weile zu und ich hab sehr gute Augen ...“

Nach einem Blick auf seine Armbanduhr erhebt Herr Krüger schließlich seine Stimme über die Klasse: „Schreibt bitte den Satz zu Ende, damit ich euch sagen kann, wie es weitergeht.“ Mit einem Seitenblick nimmt Herr Krüger Alfons wahr, der eine ‚Wie-soll-ich-denn-da-arbeiten-wenn-Sie-einem-so-wenig-Zeit-geben-Geste‘ macht. Als Herr Krüger einen kurzen Kontrollgang durch die Klasse macht, zeigt sich, dass Alfons gerademal das Datum auf sein Blatt geschrieben hat.

Und er fragt sich: ‚Sollte Unterricht doch lieber in Einzelzellen wir früher im Sprachlabor stattfinden, weil einige Schüler nicht zu Potte kommen?‘

Donnerstag, 28. Mai 2015

Wiedergutmachungsmaßnahmen



Je nach Schule und Schultyp gibt es ein Regelwerk, das immer dann zum Einsatz kommt, wenn es Regelverstöße gegeben hat. Häufig sind das die Standards, die jeder aus seiner Schulzeit kennt: Tadel, Nachsitzen oder Elterngespräche. Damals, also zu Zeiten, zu denen Herr Krüger noch Schüler war, zählte das auch noch etwas. Die Kids zogen wie Schildkröten den Kopf ein, machten sich Gedanken, was wohl ihre Eltern sagen würden und bemühten sich, dem Lehrer, der die jeweilige Maßnahme verhängt hatte, in den nächsten zwei oder drei Wochen möglichst nicht einmal auf dem Gang oder Schulhof über den Weg zu laufen.
Das ist heutzutage nicht mehr so – zum Leidwesen vieler Lehrer!
Heutzutage duckt sich ein Schüler nach einer Grenzüberschreitung und einem entsprechenden Donnerwetter kurz weg und nimmt sich dann die nächste Frechheit heraus. Diese leidliche Erfahrung muss Herr Krüger machen, als er seine Schüler in Gruppenarbeit schickt, Madleen die Gelegenheit hierfür aber nutzt, um laut kichernd Witze zu erzählen und die gesamte Gruppe von der Arbeit abzuhalten. „Madleen ....“ warnt Herr Krüger in ihre Richtung. Madleen guckt Herrn Krüger unverfroren in die Augen und plappert munter und laut weiter, ohne ihr Verhalten in irgendeiner Weise zu ändern. „Madleeeeen“ wird Herr Krüger lauter. Die Situation wiederholt sich und mit dem gleichen ‚Stört-mich-doch-nicht-Gesichtsausdruck‘ in den Augen wird ihr Gelächter in der Gruppe noch lauter. Herrn Krüger platzt der Kragen und er brüllt Madleen an: „RRAAUUUUUUSSS!“
Statt zu reagieren und flink wie ein Wiesel die Klasse zu verlassen, grinst Madleen Herrn Krüger frech an und bewegt sich nicht, während der Rest der Klasse so leise ist, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. „VERDAMMT NOCHMAL, RAUUUUUUUS!“ Beifall heischend guckt Madleen noch einmal in die Runde ihrer Gruppe, bewegt sich dann im Schneckentempo Richtung Tür und verlässt endlich den Raum.
Genervt, aber wieder mit leiser Stimme betreut Herr Krüger die anderen Schülergruppen. Dabei stellt er fest, dass er so laut gebrüllt hat, dass ihm sein Hals wehtut – ‚so eine Scheiße‘.
Nach der Stunde betritt Madleen wieder den Klassenraum und will sich rechtfertigen. Herrn Krüger interessiert das kein Stück. „Ehrlich gesagt habe ich keine Lust, heute noch irgendetwas von dir zu hören. Ich habe lange nicht mehr erlebt, dass jemand so respektlos ist wie du und Halsschmerzen habe ich jetzt deswegen auch. Ich erwarte von dir, dass du dich noch einmal schriftlich zu deinem Verhalten äußerst. Außerdem erwarte ich, dass morgen eine Tüte Kräuterhalsbonbons in meinem Fach liegt – von Ricola.“
Madleen schluckt die Strafe und wagt nur noch die Frage: „Wo soll ich die denn kaufen?“ Mit einem „probier’s mal in einem Klamottenladen“ lässt Herr Krüger Madleen zurück. Dennoch – einen Tag später liegt die Tüte wie gefordert in Herrn Krügers Fach.
Herr Krüger denkt über seine Maßnahme nach und merkt, dass sie ziemlich logisch war – auch für Madleen. Ob man daraus ein ganzes Konzept stricken könnte? Dieses würde immer dann greifen, wenn entsprechende Maßnahmen notwendig sind und eine Wiedergutmachung verlangen. Herr Krüger spielt das Szenario für ein paar Situationen durch:
  • Verlangt eine bestimmte Situation also, dass sich ein Schüler eine Ohrfeige einfängt, sollte der Schüler als logische Maßnahme eine Handcreme für den Lehrer besorgen, damit dieser sich seine beanspruchte Hand eincremen kann.
  • Oder sollte im Winter ein Schüler einen Schneeball werfen, sodass der Lehrer ihn zum Schneefegen o. ä. verdonnert und dabei beaufsichtigt, sollte der Schüler dafür sorgen, dass der Lehrer beim Beaufsichtigen einen Glühwein in den Händen hält.
  • Gibt das Verhalten eines Schülers dazu Anlass, dass eine Stunde Nachsitzen fällig wird, wäre es die Aufgabe des Schülers dafür zu sorgen, dass der Lehrer während dieser Stunde Kaffee und Kuchen sowie Schlagsahne zur Verfügung hat, um seinen Zeitverlust wiedergutzumachen.
Herrn Krüger gefällt sein Wiedergutmachungskonzept und er beschließt, seiner Kollegin Frau Kracht von der Idee zu berichten. Wer weiß, vielleicht zieht sie ja bei der Umsetzung dieses Konzepts mit und man sieht demnächst mehrere Kollegen mit Glühwein oder Kuchen auf dem Schulgelände. Ein schönes Bild, dass Herrn Krüger schmunzeln lässt ...

Samstag, 23. Mai 2015

... angeschmiert



Es drohte an Herrn Krügers Schule schon fast langweilig zu werden, wenn nicht ... ja, wenn nicht die Maler gekommen wären. Mitten in der Woche, mitten am Tag und mitten im Geschehen schlägt plötzlich eine Malerkolonne auf. Eimer in der Hand, Leitern auf den Schultern, weiße, aber bunt besprengelte Hosen auf dem Leib beziehen Sie im Erdgeschoss Stellung.

Herr Krüger registriert dies zunächst nur nebenbei und gibt seine erste Doppelstunde Biologie. Als er danach zurück zum Lehrerzimmer kommt, hat sich der Flur deutlich verändert: Teppichbahnen wurden ausgerollt – wenn auch nicht in rot, sondern in grau –, Kreppstreifen zieren die Türrahmen und Klinken und Herr Krüger, seine Kolleginnen und Kollegen aber auch die Schülerschaft laufen zwar nicht angetrunken, aber dennoch im Slalom zwischen Farbeimern und anderen Malerutensilien über den Gang.

Gute zehn Minuten später ist es schon wieder Zeit, die nächsten Schüler zu ärgern und Herr Krüger verlässt das Lehrerzimmer wieder. Die Kreppgirlanden sind mehr geworden, sodass die Herren in den weißen Kitteln demzufolge auch von der Rolle sind.

Eine weitere Doppelstunde vergeht und da Herr Krüger anschließend noch eine Aufsicht wahrzunehmen hat, betritt er den Flur im Erdgeschoss erst wieder, als dieser sich nahezu gänzlich verhüllt hat. ‚Wow‘, denkt sich Herr Krüger, ‚so sieht also ein Flur im Burka-Look aus: Halbdurchsichtige Folien hängen wie Segel von den Feuerschutztüren, auch der Boden ist mittlerweile komplett unter weiterem Abdeckmaterial verschwunden, beinahe der gesamte Flur ist verhüllt. Allerdings hat die Pinselkolonne heute die Segel gestrichen, denn keiner der bleichen Gesellen ist mehr zu sehen.

Am Tag drauf ist das anders. Als Herr Krüger durch das Foyer schreitet, schart sich gerade das Malervolk um einen Auflauf von Farbeimern. Sie scheinen einen Schlachtplan auszuhecken. Und tatsächlich, als Herr Krüger eine Schulstunde später erneut auf den Gang tritt, haben sie angefangen. Es sieht noch fleckig aus, aber immerhin, es scheint etwas zu passieren.

Auch erste Schilder, auf denen ‚frisch gestrichen‘ steht, hängen bereits. Wie Herr Krüger in der Pause merkt, sind aber mittlerweile nicht nur die ersten Türen frisch gestrichen, sondern auch die ersten Schüler. Alle paar Minuten begegnet ihm eine kleine Traube von Schülern, die überwiegend belustigt um einen eher bedient wirkenden Schüler steht. Das Bild der Schülertraube ist immer ähnlich, nur die Blessuren, die die Schüler davongetragen haben, zeigen sich an den unterschiedlichsten Stellen. Der erste hat eine dunkelgrüne Handinnenfläche – unverkennbar hatte er eine frisch gestrichene Tür nicht an der Klinke, sondern am Türkörper angefasst. Ein paar Meter weiter bestaunt eine andere Schülerhorde eine Jacke, auf deren Schulterbereich sich so etwas wie ein Tattoo abzeichnet, das aber letztlich auch nur einen Zusammenstoß mit einer Tür abbildet. Die größte Traube lässt auf eine besonders ungewöhnliche Begegnung mit der bösen grünen Lackfarbe schließen und als Herr Krüger näherkommt, kann auch er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ricardo, einen Schüler aus einer der 7. Klassen, – schmückt ein unregelmäßiges dunkelgrünes Farbmuster schräg oben im Gesicht. Herr Krüger erkundigt sich bei einem der umstehenden Schüler und bekommt selbstverständlich sofort die gewünschte Auskunft. Ricardo hatte an der Mädchentoiletteneingangstür gestanden und durchs Schlüsselloch gucken wollen, weil er das Mädchen darin vermutete, für das er gerade ein erhöhtes Interesse entwickelt. Sie war nun während der letzten Stunde darin verschwunden, Ricardo hatte sich auch unter dem ‚Toiletten-Vorwand‘ aus dem Unterricht entfernt, war ihr gefolgt und hoffte nun, irgendetwas Spannendes von ihr zu erhaschen. Was Ricardo aber nicht wusste, dass noch ein anderes Mädchen zur selben Zeit auf der Toilette war und just in dem Moment die frisch gestrichene Tür aufstieß, als Ricardo gerade sein Auge am Schlüsselloch platzieren wollte. Das Ergebnis prangte nun in seinem Gesicht ...

Aber auch die Kollegen sind genervt von der Invasion der Maler. Besonders ein Kollege fühlt sich angeschmiert, seit er über den Flur ging, eine Tür aufflog und diese von seinem Hemdsärmel gestoppt wurde. Alle anderen Kollegen betreten jedoch überraschend freundlich das Lehrerzimmer und lächeln sich mehr an als sonst. Nach einigem Rätseln wird Herrn Krüger der Grund klar. Auch die Lehrerzimmertür wird natürlich gestrichen und steht seit einiger Zeit offen. Als Vorsichtsmaßnahme haben die Maler nun auch hier ein Schild angeklebt, das allerdings von oben herunterhängt, sodass alle Kollegen aus der Angst vor Farbmalen und um nicht das Schild im Gesicht zu haben, eine tiefe Verbeugung machen, wenn sie das Lehrerzimmer betreten. Wer dann einen solchen Kollegen kommen sieht, freut sich über die so selten gewordene und tiefe Verbeugung und grüßt erfreut zurück. Es scheint also fast so, als hätte das Malen doch auch einen positiven Nebeneffekt. Ob man deshalb vielleicht alle ‚frisch gestrichen‘-Schilder von oben an Türen runterhängen lassen sollte?

Montag, 11. Mai 2015

UADS



Wer sich ein bisschen in der Schullandschaft auskennt, weiß, dass es Schüler gibt, denen ADS bzw. ADHS diagnostiziert wird. ADS ist eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung bzw. -hyperaktivitätsstörung. Nach der Beschreibung bei Wikipedia können diese Kinder ihre Impulsivität nicht steuern, können nicht abwarten und sind nur bedingt dazu in der Lage sich anzustrengen.
Herr Krüger hat sich zu Beginn seiner Lehrerkarriere damit beschäftigt, fragt sich allerdings in letzter Zeit, ob die Schülerinnen und Schüler darunter leiden oder es eigentlich ganz bequem finden, dass sie sich nicht konzentrieren können. Weil viele Schüler sich nicht auf den Unterricht konzentrieren, denen diese Diagnose nicht gestellt wurde, hat Herr Krüger weitergedacht und ist zu dem Schluss gekommen, dass es eigentlich UADS ist, was er da tattäglich erlebt, eine Unterrichtsaufmerksamkeitsdefizitstörung. Dieses stellt sich so dar, dass Schüler sich einfach nicht auf den Unterricht konzentrieren. Ob sie nicht können oder nicht wollen, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Es spielt aber auch keine Rolle, schließlich ist das Sitzenbleiben abgeschafft und irgendwie sind schon viele durchgehievt worden, insofern ...
Herr Krüger beobachtet, dass Schülerinnen und Schüler schon in der siebten Klasse nicht mehr dazu in der Lage sind, länger als zwei Minuten zuzuhören. Selbst nach einem Donnerwetter und einer deutlichen und lauten, manchmal beinahe brüllenden Ansage durch den Lehrer keimen binnen kürzester Zeit wieder erste Bemerkungen und Kommentare der Schule auf und das Getuschel und Gelaber geht von vorne los.
Die Schüler schreckt offenbar fast gar nichts mehr. Dies bestätigt sich auch Herrn Krüger, der aus gegebenem Anlass Natalias Mutter zum Elterngespräch bestellt hat. Da beide – Mutter und Tochter erscheinen – ergibt sich im Rahmen des Gesprächs ganz plötzlich aus dem Nichts ein Streit. „... du lässt mich ja gar nichts mehr machen“, warf Natalia dabei ihrer Mutter vor, die mit einer Antwort nicht lange auf sich warten ließ: „Du musst dich gar nicht wundern, du machst so viel Scheiße den ganzen Tage, dass du es nur verdient hast ...“
Herr Krüger würde sich am liebsten wegbeamen. Erstens, damit die beiden sich gegenseitig ankeifenden Hühner ihren Zickenterror untereinander austragen können, zweitens, weil er sich für das unreife Benehmen der Mutter fremdschämt und drittens, weil er einfach besseres zu tun hat, als sich so etwas anzuhören. Aber nein, Schule verschont Lehrer vor gar nichts, sie werden auch zu solchen Elterngesprächen verdonnert – was für eine Verschwendung. Herrn Krüger bestätigt es aber einmal mehr, dass Menschen vor immer weniger zurückschrecken, in diesem Falle betrifft es beide: Mutter und Tochter.
Aber zurück zu den verhaltensauffälligen Schülern, die nicht mehr still sitzen können. Schon die einfachsten Dinge vermögen es, die Aufmerksamkeit der Schüler auf sich zu ziehen. Dies gilt gleichermaßen für Hunde, die vor dem Fenster bellen, Regen, der vom Himmel kommt oder auch einfach nur eine Nebelkrähe, die vor dem Fenster auf dem Gras nach Futter sucht – alles ist interessanter als Unterricht und zieht die Aufmerksamkeit auf sich.
Also stellt sich die Frage, wie man die Aufmerksamkeit effektiver bündelt und aufs Unterrichtsgeschehen lenkt. Herr Krüger hat einige Ideen: Man könnte den Vögeln – wie im Computerspiel – kleine Schildchen mit Informationen, Fachbegriffen oder anderen portionierbaren Dingen, die zum Unterricht gehören, umhängen. Fliegt dann z. B. eine Amsel am Fenster vorbei und trägt ein Schild mit der Aufschrift „Ich bin ein Konsument der 1. Ordnung“, dann kann der Schüler zwar aus dem Fenster gucken, erhält von dort allerdings eine unterrichtsrelevante Information. Da man die Vögel aber nicht fernsteuern kann, ist diese Idee wohl nicht so realistisch. Oder aber ... Herr Krüger könnte seine kleinen fachbezogenen Botschaften über WhatsApp oder sms versenden. Die Schüler wären abgelenkt, weil ihr Handy sich meldet, der Kreis würde sich aber wieder schließen, weil die Message zum Unterricht gehört. Aber wann soll er die ganzen Nachrichten schreiben? Oder macht das ein Unterrichtsassistent? Leider gibt’s ja keinen. Hmm ...
Schwierig! Was könnte man sonst noch machen, um Ablenkung, Impulsivität und Unterricht miteinander zu verbinden ...?

Samstag, 9. Mai 2015

Ich hab doch nur ...



Als Analyst von Sprache, den Sprachgewohnheiten von Menschen, insbesondere von Schülern ist Herr Krüger irgendwann dahinter gekommen, woran es liegt, dass Schüler sich so viele Dinge herausnehmen, die verboten, unhöflich, respektlos oder schlicht und ergreifend überflüssig sind: Die Kids legitimieren sich selbst. Es ist ganz einfach, man muss lediglich das kleine Wörtchen „nur“ in seinen Satz einbauen und schon wirkt der gesamte Kontext komplett verharmlost.
Nachdem Herr Krüger zu dieser Erkenntnis gekommen ist, sucht er als halber Naturwissenschaftler nach Situationen, die seine Hypothese belegen oder bestätigen. Und tatsächlich: Der Montag ist insofern ein idealer Tag, weil s derzeit Herrn Krügers längster Tag ist: von der ersten bis zur achten Stunde!
Herr Krüger bastelt sich ein Schild, auf dem nur „NUR“ draufsteht und stellt es sich wie ein kleines Namensschild auf seinen Schreibtisch bzw. sein Lehrerpult – als ständige Erinnerung.
Die Stunde beginnt und Herr Krüger steht in gewohnter Pose vor seiner Klasse – unbeweglich und nur mit Mimik und Gestik kontrollierend und wartend. Nacheinander merkt ein Schüler nach dem anderen, dass es losgehen soll und bringt sich in die erwartete Begrüßungshaltung. Nur Marco hat mal wieder die Pausenzeit bis auf die letzte Sekunde ausgekostet und ist demzufolge so gar nicht vorbereitet. Sein Basecap sitzt noch auf seinem Schädel, die Materialien der letzten Stunde liegen noch wie fallengelassen auf dem Tisch, von Geografiematerialien ist weit und breit nichts zu sehen. Marco ist noch als Leuchtturm tätig und wird bereits von Mitschülern ermahnt, er solle doch endlich mal still halten und an seinen Platz gehen, damit die Stunde beginnen kann. Dies ist sein Stichwort. Er tänzelt zu seinem Platz, stellt sich zur Begrüßung hin, merkt dann, dass er ja noch sein Cap aufhat, setzt es ab und legt es auf den Tisch. Er grinst Herrn Krüger an und sagt: „Ich habe nur meine Cap abgesetzt, muss ich ja, oder?“ Da war es: „NUR“! Es ging ganz leicht für Marco und war eine Sache von nur einem Bruchteil einer Sekunde; nur Herr Krüger wartet mittlerweile drei Minuten. Und dann – Herr Krüger hatte gerade Luft geholt und wollte sein „Guten Morgen, meine Lieben“ auf den Weg schicken, als Marco übernatürlich umständlich erneut seinen Platz verlässt und zum Mülleimer läuft. Auf dem Weg dorthin hört Herr Krüger ein „ich muss nur schnell meinen Kaugummi ausspucken“. Marco sucht noch einmal den Blick seines Lehrers und wartet, bis möglichst viele zu ihm sehen, und lässt dann den Kaugummi in den Mülleimer plumpsen: Klack. „Ich hab nur schnell meinen Kaugummi ausgespuckt ...“ Da war es schon wieder – gleich zweimal – das „NUR“!
Nachdem Herr Krüger dann doch noch seine Klasse begrüßen konnte und die Schüler sich setzen, wird es erneut laut und auch Marco lässt Leuchtturmlicht wieder rotieren. Herr Krüger übertönt seine Klasse mit einem: „Jeder nimmt bitte das Buch vor und schlägt die Seite 147 auf!“ Noch vor „schlägt die Seite 147 auf“ schwillt der Geräuschpegel an und die Schüler verursachen durch das bloße Aufschlagen einer Buchseite ein Chaos. Ein extrem lautes „hey“ lässt fast alle Schüler abrupt verstummen, nur Nadine redet noch mit ihrer Nachbarin. „Nadiiiiiine ...“ Herr Krüger ist genervt. „Ich habe sie nur gefragt, welche Seite wir aufschlagen sollen.“ Tatsächlich, Herr Krüger guckt erneut auf sein NUR-Schild. Dieses kleine Wörtchen wird von seinen Schülern nicht nur benutzt, es wird geradezu inflationär in jeden zweiten Satz eingebaut. Verblüffend und erschreckend zugleich. Kristin meldet sich: „Herr Krüger, kann ich ganz kurz an meinen Spint? Ich brauche nur zwei Minuten ...“ Noch während sie fragt, geht sie schon in Richtung Tür, da die Schließfächer nicht im Klassenraum stehen. „NEIN!“ „Aber ich will doch nur mein Lineal holen ...“ „N E I N !“ Zähneknirschend setzt sich Kristin wieder hin, während Herr Krüger tief Luft holt und analysiert: ‚Da hat dieses Biest von Kristin doch schon wieder dieses vermaledeite Wort ausgenutzt.‘
Nach dem Erteilen von zwei Arbeitsaufträgen der Seite 147 kehrt langsam Ruhe ein und die NUR-Sätze bleiben aus ... „André ... dreh dich um!“ „Ich hab ihn nur nach einem Blatt gefragt ...“
Na ja, sie bleiben fast aus, diese Sätze. ‚Was für ein raffiniertes Wort‘.