Samstag, 9. Mai 2015

Ich hab doch nur ...



Als Analyst von Sprache, den Sprachgewohnheiten von Menschen, insbesondere von Schülern ist Herr Krüger irgendwann dahinter gekommen, woran es liegt, dass Schüler sich so viele Dinge herausnehmen, die verboten, unhöflich, respektlos oder schlicht und ergreifend überflüssig sind: Die Kids legitimieren sich selbst. Es ist ganz einfach, man muss lediglich das kleine Wörtchen „nur“ in seinen Satz einbauen und schon wirkt der gesamte Kontext komplett verharmlost.
Nachdem Herr Krüger zu dieser Erkenntnis gekommen ist, sucht er als halber Naturwissenschaftler nach Situationen, die seine Hypothese belegen oder bestätigen. Und tatsächlich: Der Montag ist insofern ein idealer Tag, weil s derzeit Herrn Krügers längster Tag ist: von der ersten bis zur achten Stunde!
Herr Krüger bastelt sich ein Schild, auf dem nur „NUR“ draufsteht und stellt es sich wie ein kleines Namensschild auf seinen Schreibtisch bzw. sein Lehrerpult – als ständige Erinnerung.
Die Stunde beginnt und Herr Krüger steht in gewohnter Pose vor seiner Klasse – unbeweglich und nur mit Mimik und Gestik kontrollierend und wartend. Nacheinander merkt ein Schüler nach dem anderen, dass es losgehen soll und bringt sich in die erwartete Begrüßungshaltung. Nur Marco hat mal wieder die Pausenzeit bis auf die letzte Sekunde ausgekostet und ist demzufolge so gar nicht vorbereitet. Sein Basecap sitzt noch auf seinem Schädel, die Materialien der letzten Stunde liegen noch wie fallengelassen auf dem Tisch, von Geografiematerialien ist weit und breit nichts zu sehen. Marco ist noch als Leuchtturm tätig und wird bereits von Mitschülern ermahnt, er solle doch endlich mal still halten und an seinen Platz gehen, damit die Stunde beginnen kann. Dies ist sein Stichwort. Er tänzelt zu seinem Platz, stellt sich zur Begrüßung hin, merkt dann, dass er ja noch sein Cap aufhat, setzt es ab und legt es auf den Tisch. Er grinst Herrn Krüger an und sagt: „Ich habe nur meine Cap abgesetzt, muss ich ja, oder?“ Da war es: „NUR“! Es ging ganz leicht für Marco und war eine Sache von nur einem Bruchteil einer Sekunde; nur Herr Krüger wartet mittlerweile drei Minuten. Und dann – Herr Krüger hatte gerade Luft geholt und wollte sein „Guten Morgen, meine Lieben“ auf den Weg schicken, als Marco übernatürlich umständlich erneut seinen Platz verlässt und zum Mülleimer läuft. Auf dem Weg dorthin hört Herr Krüger ein „ich muss nur schnell meinen Kaugummi ausspucken“. Marco sucht noch einmal den Blick seines Lehrers und wartet, bis möglichst viele zu ihm sehen, und lässt dann den Kaugummi in den Mülleimer plumpsen: Klack. „Ich hab nur schnell meinen Kaugummi ausgespuckt ...“ Da war es schon wieder – gleich zweimal – das „NUR“!
Nachdem Herr Krüger dann doch noch seine Klasse begrüßen konnte und die Schüler sich setzen, wird es erneut laut und auch Marco lässt Leuchtturmlicht wieder rotieren. Herr Krüger übertönt seine Klasse mit einem: „Jeder nimmt bitte das Buch vor und schlägt die Seite 147 auf!“ Noch vor „schlägt die Seite 147 auf“ schwillt der Geräuschpegel an und die Schüler verursachen durch das bloße Aufschlagen einer Buchseite ein Chaos. Ein extrem lautes „hey“ lässt fast alle Schüler abrupt verstummen, nur Nadine redet noch mit ihrer Nachbarin. „Nadiiiiiine ...“ Herr Krüger ist genervt. „Ich habe sie nur gefragt, welche Seite wir aufschlagen sollen.“ Tatsächlich, Herr Krüger guckt erneut auf sein NUR-Schild. Dieses kleine Wörtchen wird von seinen Schülern nicht nur benutzt, es wird geradezu inflationär in jeden zweiten Satz eingebaut. Verblüffend und erschreckend zugleich. Kristin meldet sich: „Herr Krüger, kann ich ganz kurz an meinen Spint? Ich brauche nur zwei Minuten ...“ Noch während sie fragt, geht sie schon in Richtung Tür, da die Schließfächer nicht im Klassenraum stehen. „NEIN!“ „Aber ich will doch nur mein Lineal holen ...“ „N E I N !“ Zähneknirschend setzt sich Kristin wieder hin, während Herr Krüger tief Luft holt und analysiert: ‚Da hat dieses Biest von Kristin doch schon wieder dieses vermaledeite Wort ausgenutzt.‘
Nach dem Erteilen von zwei Arbeitsaufträgen der Seite 147 kehrt langsam Ruhe ein und die NUR-Sätze bleiben aus ... „André ... dreh dich um!“ „Ich hab ihn nur nach einem Blatt gefragt ...“
Na ja, sie bleiben fast aus, diese Sätze. ‚Was für ein raffiniertes Wort‘.

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