Donnerstag, 9. Mai 2013

Immer ich!



Frau Ernst betritt die Klasse 9.4, die Klasse, in der sie auch Klassenlehrerin ist. Das übliche Prozedere beginnt mit dem vollen Programm: Verspätungen, eigenwilligen Umsetzungsaktionen der Schüler trotz bestehendem Sitzplan und mehreren Aufforderungen, sich wieder auf den zugeteilten Platz zu setzen; drei, vier Schüler betreten wie gewohnt verspätet, aber mit einer Seelenruhe im Schritt den Klassenraum und steuern ohne Frau Ernst eines Blickes, geschweige denn eines Wortes zu würdigen, ihren Sitzplatz an.

Nach geschlagenen zehn Minuten sind die Schüler endlich soweit, dass der Unterricht beginnen kann. Das Aufstehen, das Frau Ernst wieder eingeführt hat, dauert auch nochmal eine Weile, aber dann kann sie endlich mit ihrem Stoff beginnen. Es geht um die Rechtschreibung, das Fass, das offenbar niemals einen Boden, geschweige denn einige Seitenbretter besessen zu haben schien.
Frau Ernst hat ein Tafelbild vorbereitet. Es zeigt Wörter aller Art, die unterschiedliche Fehler enthalten und von den Schülern verbessert werden sollen. Martin fällt das Wort ‚Ur‘ auf. Selbstverständlich ohne sich zu melden ruft er laut in die Klasse „Frau Ernst, sie haben Uhr falsch geschrieben ...“ Frau Ernst greift die Äußerung auf: „Genau darum geht es heute, Martin, um Fehler, die ihr in den Wörtern, die ich an die Tafel geschrieben habe, finden sollt.“
An zwei anderen Ecken in der Klasse gibt es Diskussionen um das Wort ‚Uhr‘, das Frau Ernst als ‚Ur‘ an die Tafel geschrieben hat.
Währenddessen berichtet Oberquatschblase Claire ihrer äußerst empfänglichen und ebenso plauderwütigen Freundin von dem süßen Jungen, den sie am Wochenende im Chat kennengelernt hat. Sie lacht immer wieder und man sieht ihrer Körpersprache ihre Begeisterung an, auch wenn man die einzelnen Worte nicht hört. Madeleine hört genau zu, von Uhren wollen die beiden eh nichts wissen.
Pierre hat sich gerade von seinem Nachbarn Paul einen Bleistift genommen, was Paul aber überhaupt nicht toll findet, weil er ihn selbst gerade benutzen will. Er versucht, ihn Pierre wieder aus der Hand zu reißen, selbstverständlich von lauten Beschimpfungen begleitet: „Ey ... spinnst du, das ist mein Bleistift, ich brauch den jetzt, du Opfer.“ Die beiden sind keine Wunschgemeinschaft nebeneinander, aber die Sitzordnung schreibt das so vor, da die beiden woanders eine verlässliche Basis mannigfaltiger Privatgespräche gewesen wären. „Paul, geht’s auch ohne Pöbeleien und Handgreiflichkeiten ...?“ ermahnt Frau Ernst die beiden. Paul versteht die Welt nicht mehr: „Hä, das ist vielleicht mein Stift, ich lass mir den doch nicht einfach abziehen ...“ „Das interessiert mich nicht“, winkt Frau Ernst ab, „klärt, was ihr klären müsst, aber tut es gefälligst lautlos! – Also“, wendet sich Frau Ernst wieder der Klasse zu, achtet bitte zuerst einmal auf alle Verben und dann erst auf die Nomen, damit wir eine Systematik herstellen ... Madeleine, Claire, könnt ihr jetzt mal eure Privatgespräche einstellen?“ Madeleine, die fast die ganze Zeit nur Claire zugehört und ab und zu nachgefragt hat, beschwert sich entrüstet: „Ich hab doch gar nichts gesagt?“ Dann kannst du mir ja bestimmt sagen, was Martin gerade festgestellt hat …!?“ „Nee, kann ich nicht, ich hab ihn nicht verstanden.“ „Und woran hat das gelegen?“ unterbricht Frau Ernst nun endgültig ihren Unterricht. „... weiß ich doch nicht … er hat zu leise gesprochen.“ Frau Ernst seufzt einmal tief und sucht nach dem roten Faden: „Also, bitte erst einmal die Verben raussuchen und überprüfen ...“

Nach der Stunde kommt Madeleine zu Frau Ernst. 
„Warum müssen sie eigentlich immer mich anmachen? Ich habe heute echt nichts gemacht und ich krieg dann wieder Ärger und zu den anderen sagen sie gar nichts, dabei quatschen die genauso. Ich finde das voll ungerecht!?“ - „Madeleine, du willst dich doch jetzt nicht ernsthaft beschweren, oder?“ wundert sich Frau Ernst, „wir wissen doch beide, dass du ständig quatscht und außerdem: Ich machte nicht an!“ „Ja, aber heute hab ich ...“ „Madeleine, du weißt warum, da gibt’s gar nichts zu diskutieren ...“ „Frau Ernst, sie sind voll ungerecht ...“ zieht Madeleine beleidigt ab, als sich Paul dem Pult nähert.
„Frau Ernst, warum müssen sie eigentlich immer mich anmachen? Ich habe heute echt nichts gemacht und ich krieg dann wieder Ärger und zu den anderen sagen sie gar nichts. Ich finde das voll ungerecht!“
Frau Ernst rollt mit den Augen; fehlt nur noch, dass am Abend die Eltern anrufen und auch noch einmal fragen, warum eigentlich immer ihr Kind angemacht wird ...

Mittwoch, 1. Mai 2013

Neues aus Müllhausen



Eigentlich soll Paul ja in der Schule etwas lernen. Will er aber nicht, es macht doch viel mehr Spaß Grenzen auszutesten, Lehrer in die Weißglut zu treiben und zu versuchen, sie aus dem Konzept zu bringen. Das war zwar schon immer so, wie Paul erfahren hat, als der irgendwann mal mit der Verwandtschaft zu Weihnachten die Feuerzangenbowle ansehen musste ... ist aber heutzutage irgendwie anders. Damals haben die Schüler strammgestanden, wenn ein Lehrer die Klasse betrat. Nur wozu? Paul hat den Film nicht richtig verstanden, weil alles so unrealistisch wirkte. Warum bitte sollte er stramm an seinem Platz stehen, bevor ein Lehrer die Klasse betritt? Und dann dieser Aufstand, den dieser Lehrer im Film macht, als einer ein Papierkügelchen nach ihm wirft – unfassbar, wie die Schule damals gewesen sein muss.



Paul betritt die Schule, steckt sich dabei ein Kaugummi in den Mund und lässt das Papier achtlos fallen; irgendwie hat er sich das angewöhnt und findet es irgendwie gut, haben sie doch in einer der letzten Stunden darüber gesprochen, wie man Arbeitsplätze schafft. Und Paul hat gerade zum Arbeitsplatzerhalt beigetragen. Denn u. a. seinetwegen können deshalb die Putzfrauen kommen, stimmt's? Na, jedenfalls sind die doch dazu da, den Dreck und so wegzumachen, oder? Insofern ist es immer voll übertrieben, wenn er einmal im halben Jahr von einem Lehrer angemacht wird, weil er sein Kaugummipapier fallengelassen hat.

Schwieriger ist es da im Klassenzimmer, obwohl – eigentlich auch nicht. Herr Krüger teilt zwar immer mal wieder einen sogenannten Ordnungsdienst ein, aber das ist auch mehr so pro forma und der muss auch nur putzen, wenn Herr Krüger daneben steht, jedenfalls ist so die Praxis. Na gut, irgendwie ist es schon immer ziemlich viel Dreck der so an einem Tag zusammen kommt. Das hatte Paul das eine Mal extrem genervt, weil er dummerweise unter der Aufsicht von Herrn Krüger putzen musste, er hatte keine Chance, dem zu entkommen. Und geärgert hatte sich Paul an diesem Tag, weil anscheinend jeder genau wusste, dass er das an diesem Tag alles alleine wegmachen muss. Anscheinend hatten seine Mitschüler aus genau diesem Grund besonders viel auf den Boden geworfen hatte. Denn Paul fand auf dem Boden beim Fegen Arbeitsblätter aus Biologie, ein Geodreieck aus dem Matheunterricht, Papierschnipsel aus dem Deutschunterricht, Prospekte zur Berufsberatung, die Herr Krüger reingereicht hatte, aber auch Kügelchen aus dem Musikunterricht. Die lagen da, weil sich alle heute in Musik gegenseitig abgeworfen hatten ... das war lustig.

Frau Erdmann war neu an der Schule und wurde natürlich überhaupt nicht ernst genommen. Also haben sich alle gegenseitig abgeworfen – erst nur mit Papierkügelchen, dann aber sogar mit Centstücken, die Paul jetzt alle zusammenfegte. Herr Krüger bückte sich, als er das Geld sah. Paul weiß nicht, was der Spruch "Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert" bedeutet, er hat ihn zwar schon mal gehört, aber jetzt haben wir ja eh den Euro, da gilt dieser Spruch doch eh nicht mehr, oder? Also, er bückt sich jedenfalls doch nicht wegen ein paar Cent. Dass sich nun Herr Krüger bückte, hielt ihn beim Fegen auf und das nervte, Herr Krüger nervte.

Paul hatte aber noch mehr in seinem Kehrhaufen. Aluminiumfolie, einen Filzer, Klarsichtfolie, Verpackungen von Müsliriegeln, einen Bleistift, einen Radiergummi und drei Pfandflaschen. Wieder fragt Herr Krüger, ob Paul nicht die Pfandflaschen mitnehmen und den Pfand einlösen will. „Nee, ich mach mich doch nicht lächerlich“, antwortet Paul. Herr Krüger hat nur auf diese Antwort gewartet und ist ganz froh, dass Paul so geantwortet hat, denn jetzt kann er das Pfandgeld einstreichen: „Pass auf, Paul, ich sammle die Pfandflaschen und Stifte aus dem Haufen hier und du popelst solange den Müll von den Schließfächern, da liegt oben Müll drauf und zwischen Wand und Schrank steckt auch eine Menge Unrat. Paul knirscht mit den Zähnen und fängt an, den Müll vorzuholen. Er war richtig angeekelt, weil irgendwer sogar einen Becher mit kalten Nudeln in Tomatensoße zwischen Wand und Schrank geklemmt hatte. Herr Krüger aber stellt sich genüsslich die Flaschen beiseite und überlegt gerade, ob er auch noch in den anderen Klassen gucken soll ...

Paul freut sich, als er endlich gehen kann. Ätzend, dieser Müll, denkt sich Paul, als er durch die Gänge der Schule geht, holt ein Kaugummi aus der Tasche und lässt das Papier achtlos fallen ...