Sonntag, 1. November 2015

Von wegen Idylle



Kikerikiiiii ... Herr Krüger erwacht vom Hahnenschrei in der Idylle Brandenburgs. Beim Blick aus dem Fenster sieht er auf einen See, der glatt den ruhigen Morgen widerspiegelt. Die Morgensonne wirft ihr rotes Licht auf die Baumwipfel der Kastanien, als Herr Krüger die frische Morgenluft in sein Zimmer lässt.

Und dennoch: Der Schein trügt. Die Ruhe ist nur von kurzer Dauer, denn - Herr Krüger ist immer noch auf Klassenfahrt.

Er fragt sich was der heutige Tag wohl bringen mag, denn so still und starr wie der See ruht, war es bisher nicht - im Gegenteil. In den ersten zwei Tagen ihrer 90-Stundenschicht hatten Frau Kracht und Herr Krüger schon alle Hände voll zu tun:

Streithähne mussten getrennt werden, weil sie sich nicht einigen konnten, wer zuerst da war und das vermeintlich schönere Bett bekommt, die Betten mussten bezogen werden, was nicht ganz einfach ist, wenn nicht alle Schüler wissen, dass drei Teile zum Bettzeug gehören und man sogenannte Bettbezüge über Bettdecken und Kopfkissen zieht.



Im Laufe der Zimmerrundgänge wurde ebenfalls schnell klar, dass Süßigkeiten und Chips in etwa die Hälfte des Gepäckvolumens ausmachen und dass pubertierende Teenager kein Schwarzpulver brauchen, um ein Zimmer so umzugestalten, dass man denkt, eine Bombe hätte eingeschlagen.

Sämtliche Textilien sind binnen kürzester Zeit gleichmäßig, wenn auch nicht ordentlich über das Zimmer verteilt und erwecken dabei schnell den Eindruck, als wären sie gerade aus einem Aktkleidercontainer gekippt worden, wobei die Socken in der Regel so aussehen, als seien sie zum Fahrradputzen benutzt worden und einen Gestank verbreiten, der mitunter an die Stinkbomben der 90er Jahre erinnern, die Jugendliche damals in Drogerien gekauft und in der Schule ‚geworfen‘ haben. Leere PET-Flaschen lockern das Zimmer-Bild auf und bringen Transparenz sowie eine neue Form ins Bild.



Obwohl Herr Krüger eine Zwischenreinigung durch die Schüler angeordnet und umgesetzt hat, sind Flur und Zimmer keine 24 Stunden später erneut komplett verwüstet. Die Aktion ‚Grundreinigung‘ ist gescheitert. Bei einem Blick in das eine oder andere Zimmer, den Frau Kracht und Herr Krüger den Tag über wagen, biete sich ihnen ein Bild des Grauens: Bettzeug liegt auf dem Fußboden oder fliegt durch die Gegend, Socken verursachen mitunter nicht nur einen höllischen Gestank, sondern ein Beißen in den Augen, Jungs verkriechen sich in Mädchenzimmern und verstecken sich so schlecht wie ein Vogel Strauß, wenn er seinen Kopf in den Sand steckt. Parfümwolken mischen sich mit unbehandelten Schweißausdünstungen.



Mit der stillen Hoffnung auf Besserung geben Herr Krüger und Frau Kracht bekannt, den täglichen Gang zum Wasser zu betreuen. Die Folge ist dass die gesamte Klasse wie ein Ameisenhaufen wild durcheinanderrennt, weil die meisten ihre Sachen zusammensuchen, die sich jedoch über mindestens drei Zimmer verteilt haben. Als sich nach einer geschlagenen halben Stunde die Meute auf den Weg zum nahe gelegenen See macht, setzt sich Heidi neben Herrn Krüger und fragt: „Herr Krügaaaa ... sind da Füsche?“ Man hört förmlich wie sich die gesprochenen Rechtschreibfehler in das Lehrerherz von Herr Krüger bohren, doch er setzt sich darüber hinweg und malt stattdessen finstere Geschichten über Fischschwärme mit kleinen, aber sehr scharfen Zahnleisten, die nicht lebensgefährlich sind, aber immerhin doch schmerzhafte Schürfwunden und messerscharfe Schnitte hinterlassen können.

Laut aufkreischend rennt Heidi zu einer Gruppe von Mädchen und erzählt aufgebracht davon. Die Mädchen lassen. Sie merken schnell, dass Herr Krüger Heidi mächtig aufs Glatteis geführt hat ...



So reihen sich in kurzen Intervallen sinnlose Fragen, abwegige Ideen und kleine gruppendynamische Katastrophen aneinander bis die beiden Klassenlehrer ein Fazit ziehen: Ein von Mückenstichen geplagter, letztlich abgeholter Schüler, ein wegen eines Wespenstichs wimmernder anderer Schüler, eine lange Schürfwunde am Arm von Schüler drei, Dauerzickenterror des einen Mädchenzimmers – mitunter mit ansteckender Wirkung auf Nachbarzimmer, ein zerbrochenes Bett, ein zerlegter Mülleimer sowie eine klasse komplett ausgelaugter Schüler.

Bei so einem Fazit wird Herrn Krüger und Frau Kracht schnell klar, wie viele Fehler sie gemacht haben, sodass sie beschließen, noch eine Sonderklassenfahrt zu machen. Selbstverständlich bezahlen die beiden Lehrer die gesamte Fahrt, denn den Schülern kann man das natürlich nicht zumuten. Außerdem - das steht bereits fest – haben die beiden ein 4-Sterne-Hotel gebucht, in dem täglich ein Zimmerservice die Spuren des Vortages und der Nacht beseitigt. Selbstverständlich können die Schüler die Bettenverteilung selbst bestimmen, natürlich auch gemischgeschlechtlich. Ein McDonalds sowie ein Lidl sind auch in der Nähe, sonst hätten Herr Krüger und Frau Kracht das Hotel nicht gebucht. Und sollte es immer noch Gründe finden lassen, die ein Dauermeckern zur Folge haben (und solche Gründe finden sich ganz bestimmt), wird jedem Schüler eine kostenlose Rückreise zugesichert, falls er die Fahrt vorzeitig abbrechen möchte. Soweit die Theorie ...