Donnerstag, 28. Februar 2013

Verzerrte Stunden - Alltag heute?



Schule und Unterricht könnten so schön sein ... wenn die Lehrer nicht wären. Ob viele Schüler solche Gedanken haben? Wer jetzt an seine eigene Schulzeit zurückdenkt und diese Frage für indiskutabel hält, hat lange nicht mehr einer Durchschnittsstunde in der deutschen Schule beigewohnt. In einer solchen Stunde – z. B. bei Herrn Krüger – könnte er ansonsten in etwa folgendes erleben:

Es klingelt. Zwei oder drei Schüler einer neunten Klasse spielen auf dem Gang Fangen. Nein, sie sind nicht zu alt dafür, zumindest merken sie das nicht. Stattdessen wird laut kreischend - so, dass es möglichst für alle hörbar ist und ordentlich hallt - zwischen den Säulen hin- und hergelaufen; der nahende Herr Krüger, der noch im Lehrerzimmer aufgehalten wurde, wird gar nicht bemerkt. Er hingegen kann gar nicht anders, als sie zu bemerken, betritt jedoch davon unbeirrt die Klasse und schließt die Tür. Hätten die Schüler nicht in immerhin zweieinhalb Jahren gemerkt, dass Herr Krüger mit dem Schließen der Tür seinen Unterricht beginnen will, würden die Schüler weiterhin vor der Klasse ihr Fangspiel fortsetzen.

So aber reißen sie die soeben von Herrn Krüger geschlossene Tür wieder auf – selbstverständlich ohne sie nach sich zu schließen. Warum auch? So fordern die verspätet eintreffenden Schüler also schon das zweite Mal die Aufmerksamkeit des Lehrers mit der ersten Ermahnung, die Tür zu schließen. Verwundert, dass die Tür sich nicht von alleine geschlossen hat, guckt der letzte, angesprochene Schüler zuerst zur Tür, dann zu Herrn Krüger und ist zunächst einmal ratlos. Schon hört man erneut Herrn Krügers Stimme: „Kommt noch einer oder warum hast du die Tür aufgelassen?“ Inzwischen hat sich der angesprochene Schüler aus seiner Lethargie befreien können und findet eine neue Form des Ausdrucks: Er stöhnt unendlich genervt ob der strapaziösen Bemerkung, dass er nun noch einmal zurückgehen muss. Nachdem diese unendlich anstrengende Tätigkeit endlich erledigt ist, trödelt der Betroffene langsam zu seinem Platz. Es sind mittlerweile drei Minuten vergangen, wofür die an den Plätzen sitzenden äußerst dankbar sind, bleibt so doch noch weitere Zeit zum Quatschen. Herr Krüger hat vor einiger Zeit eingeführt, dass die Schüler zur Begrüßung aufstehen, ohne außer Acht zu lassen, auf die Basics der Höflichkeit hinzuweisen: Blickkontakt, kein schlaffes Anlehnen oder auf den Tisch stützen, keine Hände in den Hosentaschen, kein Kaugummi im Mund, keine Mützen oder Schals oder Sportsachen oder Handtaschen oder oder oder auf dem Tisch ...

Was der Krüger aber auch alles will ... endlich hat er mit seinem Blick die Lage soweit eingefangen, dass er glaubt, ein lautes „Guten Morgen“ in die Klasse rufen zu können, als erneut die Tür aufgerissen wird. Zwei Mädchen kommen herein. Eine entschuldigt sich nicht, die andere blubbert ein schnelles „ich war noch auf dem Klo ...“ in Richtung Lehrerpult und schließt immerhin ausnahmsweise die Tür. Beide huschen aber im Übrigen ohne auf eine Reaktion zu warten, an ihren Platz. Herr Krüger erinnert sich, dass er die beiden in der großen Pause wild knutschend vor einer der Nachbarklassen in einiger Entfernung auf dem Flur aus dem Augenwinkel bemerkt hatte. – Alles klar, das ist natürlich wichtiger! Die halbe Klasse lacht, hat sie doch die Mimik von Herrn Krüger bemerkt, der eine kurze Kuschelpose nachstellt, während die Mädels durch den Gang nach hinten huschen und ihn nicht sehen. Manchmal kann sich das auch ein Lehrer nicht verkneifen, zumal er aufpassen muss, nicht das Unterrichtsziel aufzugeben, weil die Stunde schon am Einstieg und einer halbwegs vernünftigen Begrüßung scheitert.

Nachdem nun mittlerweile acht Minuten verloren gegangen sind, ist nun auch endlich eine Begrüßung möglich, die – von Herrn Krüger initiiert - natürlich nur von den Strebern erwidert wird. Alle anderen Schüler warten nur gelangweilt, dass diese völlig überflüssige Zeremonie über die Bühne gegangen ist, um sich dann möglichst geräuschvoll zu setzen und wieder in die üblichen Privatgespräche einzusteigen. „Ich möchte heute nach einer kurzen Wiederholung mit euch über das Problem reden ...“, beginnt Herr Krüger, da geht bereits Nadines Finger hoch. Aus der Intention der Höflichkeit nimmt Herr Krüger Nadine ran: „Fällt heute die 7. Stunde aus?“ Die Schüler, die sich gerade gedanklich auf das zu erwartende Problem eingestellt haben, lachen, weil Nadine es offenbar nicht gemerkt hat und damit natürlich den Faden, den Herr Krüger zu spinnen im Begriff war, rücksichtslos und unüberlegt abgeschnitten hat. Herr Krüger ignoriert nun doch Nadines Frage und wiederholt seine Einleitung: „Also, nochmal: Ich möchte heute mit euch ...“ Nadine hebt entrüstet die Hand. Sie dreht sich Zustimmung und Publikum suchend in die Klasse: „Hä ... ich hab doch ganz normal gefragt, warum antwortet der mir nicht?“ Sie versteht es anscheinend wirklich nicht, was zwei, drei Mitschüler der unmittelbaren Nachbarschaft merken und sich sofort bereitwillig auf den Nebenschauplatz begeben. Herr Krüger wirft eine Ermahnung in Richtung von Nadines Sitznachbarin: „Hey, nicht jetzt.“ „Aber“, entgegnet Nadines Nachbarin, „sie hat mich doch was gefragt ...“

Herr Krüger gibt auf, verlässt mit seinen Augen den Schauplatz rund um Nadine und wendet sich wieder dem übrigen Plenum zu: „Bitte erledigt die Aufgaben 5 und 6 des Arbeitsblattes aus der letzten Stunde.“ Sofort setzt ein verbales Treiben ein, was darauf schließen lässt, dass sogar das Hervorholen des Arbeitsblattes erst einmal mit dem Nachbarn diskutiert werden muss. Schließlich hat der Lehrer nichts zu sagen, sondern kann maximal Aufgaben anbieten, die man bearbeiten kann. Der Rest der Stunde scheint nur noch auf der Basis der Freiwilligkeit abzulaufen, wobei sich die Schüler an folgenden Grundsätzen zu orientieren scheinen:

  1. Oberstes Recht der Schüler während der Schulzeit ist es, zu jedem Zeitpunkt ungehindert zu kommunizieren.
  2. Ferner hat jeder Schüler das Recht, jede Anordnung und jede Aufgabe einer Lehrkraft in Frage zu stellen.
  3. Die Pflichten der Schüler beschränken sich auf die physische Anwesenheit. Weitere Pflichten werden nur bei Wohlwollen von Schülerseite und dann auch eher als ein Entgegenkommen, denn als Pflicht erfüllt.

Na dann: Willkommen in der Schule 2013!

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