Montag, 11. März 2013

Arbeitsmatt(irreal)


„Guten Morgen“ „Guten Morgen“. Der Unterricht bei Herrn Krüger hat begonnen. Obwohl es die erste Stunde ist, sind bereits die ersten Brotboxen geöffnet und Herr Krüger steht vor einem halben Duzend kauender Schüler. Nachdem die eine Hälfte von alleine das Mahl beendet, während Herr Krüger der anderen Hälfte durch entsprechende Mimik zu verstehen gibt, dass die ‚Kause‘ vorbei ist, geht’s los. „Wir steigen in das Thema ‚Asien‘ mit Atlasarbeit ein, ihr braucht also eine Federtasche samt spitzem Bleistift und Radiergummi, einen Atlas und ein Arbeitsblatt, das ihr euch hier vorne abholen könnt.“ Wie üblich beginnen bereits unmittelbar nach dem Wort ‚Atlasarbeit‘ das Kramen und Wühlen sowie die ersten Diskussionen, ob das jetzt eigentlich sein müsse, aber – da Herr Krüger gerade in einer 10. Klasse unterrichtet – hält sich das Diskutieren in Grenzen, nur das Rascheln bleibt.
Es ist nicht das Rascheln von Früher, es sind keine Reißverschlüsse von Federtaschen mehr, die man damals als typische Geräusche wahrgenommen hätte, es ist ein anderes Rascheln geworden. Früher war es geradezu ein Fest, wenn man als halbwüchsiger Pimpf eine neue Federtasche zum Geburtstag geschenkt bekam, in der man eine Reihe Filzer, eine Palette Buntstifte, Lineal, Radiergummi und Tintenpatronen unterbringen konnte, letztere schon alleine deshalb, weil man früher mit Pelikan schrieb. Es gab nichts Besseres als einen Pelikan-Füller, der fabelhaft blaue Linien zog. Das Schreiben wurde geschult, da man nicht ohne weiteres mit einem Füllfederhalter schreiben konnte, sondern dies als Basaltechnik erst einmal erlernen musste. Heutzutage ist das nicht mehr so – ein Segen für viele Schüler, die schon arbeitsmatt – und nahezu ohne ‚erial‘ in die Schule kommen. Vorbei sind die Zeiten der sagenhaften Federtaschen. Diese sind zu belastend für die überbeanspruchten Schüler geworden. „Hey“, kann sich Herr Krüger einen Spruch nicht verkneifen, als er Marlon mit seinem Stift sieht, „war der sehr teuer, dein Bleistift?“

Marlon grinst breit, denn er hat die Anspielung natürlich verstanden. Er hat nämlich mangels Bleistift einen billigen Werbekugelschreiber in der Hand. Er hat die Erfahrung gemacht, dass man auch mit einem Kugelschreiber, der zwar von Zeit zu Zeit kleckst und nicht immer gut schreibt, wunderbar aus der Hand ungerade Linien ziehen kann. Da man Kugelschreiberschrift nicht mit einem Tintenkiller wegmachen kann, spart er sich – clever, wie er ist – also auch noch diesen zusätzlichen Stift; Gleiches gilt für den Radiergummi, der ja bekanntlich auch keinen Kugelschreiber beseitigen kann. Also ist Marlon doch eigentlich ziemlich schlau. Der Stift passt auch viel besser als jede Federtasche in die Ritzen einer Jackentasche oder eines Rucksacks und damit der Stift auch wirklich nirgendwo zu dick aufträgt, hat Marlon auch noch den Clip abgepfriemelt. Das ist gar nicht so einfach, aber da er im Unterricht glücklicherweise nicht allzuviel gefordert ist, hat er sich diese Zeit einfach mal genommen.

So wie Marlon geht es vielen, die sich an diesem Modell orientiert haben. Zugegeben, die Vielfalt, sich mit den eigenen Schreibutensilien die Zeit zu vertreiben, hat abgenommen, dennoch hat der Kugelschreiber ja doch zwei zentrale Anreize: Das Abpopeln des Clips und die Geräuschproduktion. So ein Kugelschreiber ist – und sollte daher eigentlich von den Schulen gestellt werden – ein perfektes Instrument zur Schulung der Fingerfertigkeit. Auch wenn es in der Regel nur der Daumen ist, der trainiert wird, so verfügt dieser doch über eine erstaunliche Beweglichkeit, weil das Geräusch, das die klickende Mine macht, einfach so schön ist, dass man es immer und immer wieder hören möchte – natürlich auch als Lehrer. Die Schüler von Herrn Krüger tun ihm zum Glück immer wieder diesen Gefallen, so dass sie ihm regelmäßig fast das Gefühl vermitteln, als stünde er im Mittelpunkt eines Blitzlichtgewitters klickender Kameras ...

Während Marlon seine präzise Landkarte mit dem Allrounder ‚Kugelschreiber‘ erstellt, schiebt Herr Krüger eine Bemerkung für alle nach: „Wer schlau ist, verwendet das Arbeitsblatt aus der letzten Stunde, auf dem die Signaturen aufgelistet waren“. Hier zeigt sich ein weiteres Phänomen: Dieses Mal ist es nicht Marlon, sondern Katharina, die auffällt, da sie zwar dem Tipp von Herrn Krüger folgen will, das erwähnte Arbeitsblatt aber nicht wiederfindet. Ursache ist ihr einheitliches Ablagesystem, das sich ebenfalls heutzutage in großen Teilen der Schülerschaft etabliert hat. Das System basiert auf der Grundlage eines einfachen College-Blocks, der durch seinen Grundaufbau die Struktur der Systematik vorgibt. Er bietet nämlich ein Fächersystem, das es ermöglicht zwischen zwei leere, beschriebene oder beschmierte Seiten ein ausgeteiltes Arbeitsblatt einzuordnen. Damit besteht nicht mehr die Gefahr, dass man sich in der Farbpracht der geforderten Hefter verirrt, sondern man hat den gesamten Papierbereich – quasi nach Rohstoffen sortiert – beisammen. Ein positiver Nebeneffekt ist die Tatsache, dass die scharfen Kanten des Papiers, an denen man sich völlig unvorhergesehen böse Schnittverletzungen zuziehen kann, mit der Zeit immer runder werden und damit der Verletzungsgefahr vorbeugen. Ein Grund mehr also, das System flächendeckend einzuführen und anzuleiten.

Katharina sucht immer noch nach dem Arbeitsblatt, obwohl schon die Hälfte der 45 Minuten Geografie um sind; macht aber nichts, schließlich hat sie dafür die Einverständniserklärung, die sie letzte Woche schon unterschrieben abgeben sollte, wiedergefunden. Ihr System hat sich also bestätigt, es geht nichts verloren. In dem Augenblick, indem sie triumphierend das gefundene Arbeitsblatt hervorzieht, wird sie von ihrem Tischnachbarn angestoßen und ihr Collegeblock segelt samt der einsortierten Blätter von Mathe, Deutsch, Englisch, Physik, Chemie, Bio und Geografie sowie Musik auf den Fußboden. Katharina flucht lauthals durch die ganze Klasse und sammelt die Blätter wieder zusammen.

15 Minuten vor dem Stundenende und 10 zehn Minuten, bevor die Atlanten wieder weggeräumt werden, beginnt Katharina endlich damit, sich noch einmal die Inhalte des letzten Arbeitsblattes ins Gedächtnis zu rufen. Als sie beginnen will, die Signaturen in die Aufgabe der heutigen Stunde einzuarbeiten, hört sie Herrn Krüger: „Findet bitte einen Abschluss und bringt die Atlanten wieder nach vorne.“ Katharina ist arbeitsmatt, die Stunde war total anstrengend, schließlich hat sie ihren gesamten Collegeblock durchgearbeitet. „Na ja“, denkt sie sich, „vielleicht sehen wir ja nächste Stunde einen Film ...“

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