„Guten Morgen“ „Guten Morgen“. Der
Unterricht bei Herrn Krüger hat begonnen. Obwohl es die erste Stunde ist, sind
bereits die ersten Brotboxen geöffnet und Herr Krüger steht vor einem halben
Duzend kauender Schüler. Nachdem die eine Hälfte von alleine das Mahl beendet,
während Herr Krüger der anderen Hälfte durch entsprechende Mimik zu verstehen
gibt, dass die ‚Kause‘ vorbei ist,
geht’s los. „Wir steigen in das Thema ‚Asien‘ mit Atlasarbeit ein, ihr braucht
also eine Federtasche samt spitzem Bleistift und Radiergummi, einen Atlas und ein
Arbeitsblatt, das ihr euch hier vorne abholen könnt.“ Wie üblich beginnen bereits
unmittelbar nach dem Wort ‚Atlasarbeit‘ das Kramen und Wühlen sowie die ersten
Diskussionen, ob das jetzt eigentlich sein müsse, aber – da Herr Krüger gerade
in einer 10. Klasse unterrichtet – hält sich das Diskutieren in Grenzen, nur
das Rascheln bleibt.
Es ist nicht das Rascheln von
Früher, es sind keine Reißverschlüsse von Federtaschen mehr, die man damals als
typische Geräusche wahrgenommen hätte, es ist ein anderes Rascheln geworden. Früher
war es geradezu ein Fest, wenn man als halbwüchsiger Pimpf eine neue
Federtasche zum Geburtstag geschenkt bekam, in der man eine Reihe Filzer, eine
Palette Buntstifte, Lineal, Radiergummi und Tintenpatronen unterbringen konnte,
letztere schon alleine deshalb, weil man früher mit Pelikan schrieb. Es gab
nichts Besseres als einen Pelikan-Füller, der fabelhaft blaue Linien zog. Das
Schreiben wurde geschult, da man nicht ohne weiteres mit einem Füllfederhalter schreiben
konnte, sondern dies als Basaltechnik erst einmal erlernen musste. Heutzutage
ist das nicht mehr so – ein Segen für viele Schüler, die schon arbeitsmatt –
und nahezu ohne ‚erial‘ in die Schule kommen. Vorbei sind die Zeiten der
sagenhaften Federtaschen. Diese sind zu belastend für die überbeanspruchten Schüler
geworden. „Hey“, kann sich Herr Krüger einen Spruch nicht verkneifen, als er
Marlon mit seinem Stift sieht, „war der sehr teuer, dein Bleistift?“
Marlon grinst breit, denn er hat die
Anspielung natürlich verstanden. Er hat nämlich mangels Bleistift einen
billigen Werbekugelschreiber in der Hand. Er hat die Erfahrung gemacht, dass
man auch mit einem Kugelschreiber, der zwar von Zeit zu Zeit kleckst und nicht
immer gut schreibt, wunderbar aus der Hand ungerade Linien ziehen kann. Da man
Kugelschreiberschrift nicht mit einem Tintenkiller wegmachen kann, spart er
sich – clever, wie er ist – also auch noch diesen zusätzlichen Stift; Gleiches
gilt für den Radiergummi, der ja bekanntlich auch keinen Kugelschreiber
beseitigen kann. Also ist Marlon doch eigentlich ziemlich schlau. Der Stift
passt auch viel besser als jede Federtasche in die Ritzen einer Jackentasche
oder eines Rucksacks und damit der Stift auch wirklich nirgendwo zu dick
aufträgt, hat Marlon auch noch den Clip abgepfriemelt. Das ist gar nicht so
einfach, aber da er im Unterricht glücklicherweise nicht allzuviel gefordert
ist, hat er sich diese Zeit einfach mal genommen.
So wie Marlon geht es vielen, die
sich an diesem Modell orientiert haben. Zugegeben, die Vielfalt, sich mit den
eigenen Schreibutensilien die Zeit zu vertreiben, hat abgenommen, dennoch hat
der Kugelschreiber ja doch zwei zentrale Anreize: Das Abpopeln des Clips und die
Geräuschproduktion. So ein Kugelschreiber ist – und sollte daher eigentlich von
den Schulen gestellt werden – ein perfektes Instrument zur Schulung der
Fingerfertigkeit. Auch wenn es in der Regel nur der Daumen ist, der trainiert wird,
so verfügt dieser doch über eine erstaunliche Beweglichkeit, weil das Geräusch,
das die klickende Mine macht, einfach so schön ist, dass man es immer und immer
wieder hören möchte – natürlich auch als Lehrer. Die Schüler von Herrn Krüger
tun ihm zum Glück immer wieder diesen Gefallen, so dass sie ihm regelmäßig fast
das Gefühl vermitteln, als stünde er im Mittelpunkt eines Blitzlichtgewitters
klickender Kameras ...
Während Marlon seine präzise Landkarte
mit dem Allrounder ‚Kugelschreiber‘ erstellt, schiebt Herr Krüger eine
Bemerkung für alle nach: „Wer schlau ist, verwendet das Arbeitsblatt aus der
letzten Stunde, auf dem die Signaturen aufgelistet waren“. Hier zeigt sich ein
weiteres Phänomen: Dieses Mal ist es nicht Marlon, sondern Katharina, die
auffällt, da sie zwar dem Tipp von Herrn Krüger folgen will, das erwähnte
Arbeitsblatt aber nicht wiederfindet. Ursache ist ihr einheitliches Ablagesystem,
das sich ebenfalls heutzutage in großen Teilen der Schülerschaft etabliert hat.
Das System basiert auf der Grundlage eines einfachen College-Blocks, der durch
seinen Grundaufbau die Struktur der Systematik vorgibt. Er bietet nämlich ein
Fächersystem, das es ermöglicht zwischen zwei leere, beschriebene oder
beschmierte Seiten ein ausgeteiltes Arbeitsblatt einzuordnen. Damit besteht
nicht mehr die Gefahr, dass man sich in der Farbpracht der geforderten Hefter
verirrt, sondern man hat den gesamten Papierbereich – quasi nach Rohstoffen
sortiert – beisammen. Ein positiver Nebeneffekt ist die Tatsache, dass die
scharfen Kanten des Papiers, an denen man sich völlig unvorhergesehen böse
Schnittverletzungen zuziehen kann, mit der Zeit immer runder werden und damit
der Verletzungsgefahr vorbeugen. Ein Grund mehr also, das System flächendeckend
einzuführen und anzuleiten.
Katharina sucht immer noch nach
dem Arbeitsblatt, obwohl schon die Hälfte der 45 Minuten Geografie um sind; macht
aber nichts, schließlich hat sie dafür die Einverständniserklärung, die sie
letzte Woche schon unterschrieben abgeben sollte, wiedergefunden. Ihr System
hat sich also bestätigt, es geht nichts verloren. In dem Augenblick, indem sie
triumphierend das gefundene Arbeitsblatt hervorzieht, wird sie von ihrem
Tischnachbarn angestoßen und ihr Collegeblock segelt samt der einsortierten
Blätter von Mathe, Deutsch, Englisch, Physik, Chemie, Bio und Geografie sowie
Musik auf den Fußboden. Katharina flucht lauthals durch die ganze Klasse und sammelt
die Blätter wieder zusammen.
15 Minuten vor dem Stundenende
und 10 zehn Minuten, bevor die Atlanten wieder weggeräumt werden, beginnt
Katharina endlich damit, sich noch einmal die Inhalte des letzten Arbeitsblattes
ins Gedächtnis zu rufen. Als sie beginnen will, die Signaturen in die Aufgabe der
heutigen Stunde einzuarbeiten, hört sie Herrn Krüger: „Findet bitte einen
Abschluss und bringt die Atlanten wieder nach vorne.“ Katharina ist arbeitsmatt,
die Stunde war total anstrengend, schließlich hat sie ihren gesamten
Collegeblock durchgearbeitet. „Na ja“, denkt sie sich, „vielleicht sehen wir ja
nächste Stunde einen Film ...“
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