Donnerstag, 12. Februar 2015

Verzettelt




"... bevor die Stunde beendet ist: Ich sammle nächste Woche eure Hefter ein, also sichtet noch einmal, ob sie komplett sind.“, appelliert Herr Krüger an seine Klasse. Ein wildes Tuscheln macht sich breit, einige Schüler kramen erschrocken in ihren Rucksäcken. „Warum die Panik“, denkt sich Herr Krüger. Als guter Beamter hatte er gelernt, wie man mit Zetteln umgeht, also mit Zetteln im DIN à 4-Format jedenfalls. Sie werden gelocht und abgeheftet. Im Bedarfsfalle – also falls es sich um thematisch zueinander gehörige Papiere handelt – kann man diese auch vorher noch tackern. Herr Krüger fragt sich, warum er das so gut kann und denkt an seine Jugend zurück. Was war denn da eigentlich so viel anders als heute ...?

Nun, es gab viel weniger Arbeitsblätter, sodass Herr Krüger noch gelernt hatte, selbst zu schreiben und ein ordentliches Blatt für seinen Hefter vorzubereiten. Mittels Lineal hatte man ihm beigebracht, einen geraden Korrekturrand zu ziehen. Die Überschrift hatte er – ebenfalls mit Lineal – immer doppelt unterstrichen und zu Hause hatte Herr Krüger (damals natürlich noch als Andreas) die Blätter sorgfältig gelocht und dann aus seiner Sammelmappe in den jeweiligen Hefter sortiert. Meistens legte er sogar noch ein Inhaltsverzeichnis an, zumindest in Biologie – seinem Lieblingsfach. Und – ach ja – früher hatten die Arbeitsblätter oft noch nach dieser geheimnisvollen Matritzenfarbe gerochen, sodass er wie viele andere Schüler erst einmal an den Blättern geschnüffelt hatte, nachdem sie ausgeteilt worden waren.



„Herr Krüger ...“ „Äh ... ja?“ Aus seinen sentimentalen Träumereien gerissen, nimmt er Yvonne wahr, die an seinem Lehrerpult steht. „Mir fehlen aber noch alle Zettel der letzten beiden Wochen, weil ich war doch krank gewesen.“ Ob der schlechten Grammatik rollt Herr Krüger kurz mit den Augen, vernachlässigt eine berichtigende Bemerkung jedoch, weil sich immer mehr Schüler einfinden, die nach nicht mehr verfügbaren Arbeitsblättern verlangen. Herr Krüger hatte sich offenbar zu lange in seine Träumereien verloren, denn jetzt erst nimmt er differenziert wahr, in welchem Zustand sich deine Klasse befindet. Seitlich an der Fensterseite bemerkt er, wie Constantin in einem großen Haufen Papier ziellos den einen oder anderen Zettel herausfischt und beiseite legt. An einigen Stellen lugen Teile einer Spirale hervor, die darauf schließen lassen, dass hier ein Konglomerat aus einigen College-Blöcken sowie der Zettelage entstanden ist. Drei Tische dahinter blättert Murat seinen Atlas durch und zieht von Zeit zu Zeit einen Zettel hervor, den er - auf einem kleineren Haufen als bei Constantin - sammelt. Währenddessen kramt Melanie in ihrer Ablage, die Herr Krüger zu Schuljahresbeginn für jeden einzelnen Schüler etikettiert und sorgfältig in einer Ecke des Raumes platziert hatte, anscheinend ebenfalls auf der Suche nach irgendetwas Blattartigem.

Wie in Trance erhebt sich Herr Krüger, scheint die Schülertraube an seinem Lehrerpult vergessen zu haben und bewegt sich im Zeitlupentempo und wie von einer unsichtbaren Faszination für das Chaos angezogen durch die Tischreihen der Klasse. Irgendwas muss doch mit all den Arbeitsblättern passiert sein, die er doch durchweg an alle ausgeteilt hatte und die jetzt an diversen Ecken verschwunden zu sein scheinen. Und tatsächlich – immer wieder erkennt er ein seinerzeit aufwändig von ihm am Computer gestaltetes, kopiertes und sogar bereits gelochtes Arbeitsblatt, das vor Eselsohren und Knicken nur so strotzt oder mit einem deutlich sichtbaren Profil eines Schülerschuhs markiert ist. Auf wieder einem anderen Blatt erspäht er ‚Tag‘‑Versuche auf dem Blattrand, die ihn erstarren lassen. Ist das nicht der Ausschneidebogen, den er so mühselig zusammengestellt hatte?! Als er am Mülleimer vorbeikommt, sieht er einen Papierflieger am Boden und hebt ihn – um eine gewisse Sauberkeit in der Klasse bemüht – auf. Kurz, bevor er ihn wegwirft, fällt ihm das Design der rechten Tragfläche auf. Es ist durch optische Täuschungen gekennzeichnet – genauso wie der Materialbogen, den er nach der letzten Bio-Stunde vermisst hatte ...



Herr Krüger beendet seine Runde durch die Klasse. Er sinkt kraftlos auf seinem Lehrerstuhl zusammen und sehnt das Klingeln herbei ..............



Rrrrrrrrrrrrrrrring - Endlich!

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