"... bevor die Stunde
beendet ist: Ich sammle nächste Woche eure Hefter ein, also sichtet noch
einmal, ob sie komplett sind.“, appelliert Herr Krüger an seine Klasse. Ein
wildes Tuscheln macht sich breit, einige Schüler kramen erschrocken in ihren
Rucksäcken. „Warum die Panik“, denkt sich Herr Krüger. Als guter Beamter hatte
er gelernt, wie man mit Zetteln umgeht, also mit Zetteln im DIN à 4-Format
jedenfalls. Sie werden gelocht und abgeheftet. Im Bedarfsfalle – also falls es
sich um thematisch zueinander gehörige Papiere handelt – kann man diese auch
vorher noch tackern. Herr Krüger fragt sich, warum er das so gut kann und denkt
an seine Jugend zurück. Was war denn da eigentlich so viel anders als heute
...?
Nun, es gab viel weniger
Arbeitsblätter, sodass Herr Krüger noch gelernt hatte, selbst zu schreiben und
ein ordentliches Blatt für seinen Hefter vorzubereiten. Mittels Lineal hatte man
ihm beigebracht, einen geraden Korrekturrand zu ziehen. Die Überschrift hatte
er – ebenfalls mit Lineal – immer doppelt unterstrichen und zu Hause hatte Herr
Krüger (damals natürlich noch als Andreas) die Blätter sorgfältig gelocht und
dann aus seiner Sammelmappe in den jeweiligen Hefter sortiert. Meistens legte
er sogar noch ein Inhaltsverzeichnis an, zumindest in Biologie – seinem
Lieblingsfach. Und – ach ja – früher hatten die Arbeitsblätter oft noch nach dieser
geheimnisvollen Matritzenfarbe gerochen, sodass er wie viele andere Schüler
erst einmal an den Blättern geschnüffelt hatte, nachdem sie ausgeteilt worden
waren.
„Herr Krüger ...“ „Äh ... ja?“
Aus seinen sentimentalen Träumereien gerissen, nimmt er Yvonne wahr, die an
seinem Lehrerpult steht. „Mir fehlen aber noch alle Zettel der letzten beiden
Wochen, weil ich war doch krank gewesen.“ Ob der schlechten Grammatik rollt
Herr Krüger kurz mit den Augen, vernachlässigt eine berichtigende Bemerkung jedoch,
weil sich immer mehr Schüler einfinden, die nach nicht mehr verfügbaren
Arbeitsblättern verlangen. Herr Krüger hatte sich offenbar zu lange in seine
Träumereien verloren, denn jetzt erst nimmt er differenziert wahr, in welchem
Zustand sich deine Klasse befindet. Seitlich an der Fensterseite bemerkt er,
wie Constantin in einem großen Haufen Papier ziellos den einen oder anderen
Zettel herausfischt und beiseite legt. An einigen Stellen lugen Teile einer
Spirale hervor, die darauf schließen lassen, dass hier ein Konglomerat aus einigen
College-Blöcken sowie der Zettelage entstanden ist. Drei Tische dahinter
blättert Murat seinen Atlas durch und zieht von Zeit zu Zeit einen Zettel
hervor, den er - auf einem kleineren Haufen als bei Constantin - sammelt.
Währenddessen kramt Melanie in ihrer Ablage, die Herr Krüger zu
Schuljahresbeginn für jeden einzelnen Schüler etikettiert und sorgfältig in
einer Ecke des Raumes platziert hatte, anscheinend ebenfalls auf der Suche nach
irgendetwas Blattartigem.
Wie in Trance erhebt sich Herr
Krüger, scheint die Schülertraube an seinem Lehrerpult vergessen zu haben und
bewegt sich im Zeitlupentempo und wie von einer unsichtbaren Faszination für
das Chaos angezogen durch die Tischreihen der Klasse. Irgendwas muss doch mit
all den Arbeitsblättern passiert sein, die er doch durchweg an alle ausgeteilt
hatte und die jetzt an diversen Ecken verschwunden zu sein scheinen. Und
tatsächlich – immer wieder erkennt er ein seinerzeit aufwändig von ihm am
Computer gestaltetes, kopiertes und sogar bereits gelochtes Arbeitsblatt, das
vor Eselsohren und Knicken nur so strotzt oder mit einem deutlich sichtbaren
Profil eines Schülerschuhs markiert ist. Auf wieder einem anderen Blatt erspäht
er ‚Tag‘‑Versuche auf dem Blattrand, die ihn erstarren lassen. Ist das nicht
der Ausschneidebogen, den er so mühselig zusammengestellt hatte?! Als er am
Mülleimer vorbeikommt, sieht er einen Papierflieger am Boden und hebt ihn – um
eine gewisse Sauberkeit in der Klasse bemüht – auf. Kurz, bevor er ihn
wegwirft, fällt ihm das Design der rechten Tragfläche auf. Es ist durch
optische Täuschungen gekennzeichnet – genauso wie der Materialbogen, den er
nach der letzten Bio-Stunde vermisst hatte ...
Herr Krüger beendet seine Runde
durch die Klasse. Er sinkt kraftlos auf seinem Lehrerstuhl zusammen und sehnt
das Klingeln herbei ..............
Rrrrrrrrrrrrrrrring - Endlich!
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