Mittwoch, 4. Februar 2015

Die Schule – eine Gemeinschaftsklinik

Ein Arzt beschäftigt sich mit der Prävention, Diagnose, Therapie und Nachsorge von Krankheiten, schreibt Wikipedia. Wikipedia schreibt auch, dass eine Krankheit die Störung der Funktion eines Organs, der Psyche oder des gesamten Organismus ist.

Herr Krüger hatte gegoogelt. Er hatte vor ein paar Wochen eine Ärztin kennengelernt. Sie war in die Trommelgruppe eingetreten, der er seit drei Jahren angehörte. In den Probenpausen oder auch mal danach, wenn einer die anderen zusammengetrommelt hatte und alle gemeinsam noch etwas trinken gingen, hatten sich die beiden viel unterhalten, natürlich über Schule, genausop aber auch über Ärzte und Patienten. Auch heute waren sie einmal nach dem letzten Trommelschlag beim Italiener gelandet und es hat sich ein munteres Gespräch in großer Runde ergeben, bei der ein Wort das andere gab und man schließlich – wie so oft – beim Thema Schule gelandet war. Herr Krüger hatte mal analysiert, warum gerade sein Job so oft Thema war und er hatte eine Lösung gefunden: Alle glauben immer mitreden zu können, weil sie selbst einmal zur Schule gegangen sind. Dabei birgt diese Einstellung einen gewaltigen Denkfehler, denn: Reden die Leute auch mit, wenn sie ihr Auto in die Werkstatt geben, nur weil sie schon mal in einem dringesessen haben?

Wie auch immer, im Rahmen dieses verbalen Schlagabtauschs, der immer recht laut wurde, weil die Trommelfelle schon heftig geschwungen hatten, hört er plötzlich die ‚kleine Trommel‘ laut fragen: „Hast du nicht auch diverse Patienten in deiner Schule zu betreuen, Andreas?“

Eine Lachsalve schallt durchs Lokal. Herr Krüger hatte berufsbedingt Ohren, die denen des Mr. Spock kaum nachstanden. Die Stimmung ist gut und gleicht der der alten Herren aus der Feuerzangenbowle und so ist, von der ‚kleinen Trommel‘ ausgelöst, fast jeder mit einer phantasierenden Bemerkung bei der Hand. „Wie viele Patienten habt ihr denn bei euch an der Schule und steht wegen der vielen Fächer Gemeinschaftsklinik über dem Haupteingang?“ schlägt eine der Djemben vor. „Ja und im Sekretariat werden die Behandlungstermine vergeben“ ergänzt Djembe Nummer zwei. Gar nicht so abwegig, denkt sich Herr Krüger, schließlich gibt es genügend liebeskranke Schüler in dieser Zeit und auch solche, bei denen definitionsgemäß nur ein Organ gestört ist: das Gehirn. Dieses müsste ja bekanntermaßen in vielen Fällen ‚wegen Umbaumaßnahmen geschlossen‘ sein, da sind sich viele, die mit Teenagern zu tun haben, einig. Vor Herrn Krügers innerem Auge läuft augenblicklich ein illustrer Film an, in dem die Schüler in der Patientenrolle agieren, die Zeugnismappe bzw. Schülerakte zur Patientenakte mutiert und der Schulleiter den Posten des Chefarztes übernimmt.

Die Eltern lassen sich für ihre Kinder einen Termin geben, nachdem der Chefarzt den Patienten in Augenschein genommen, die Akte studiert und eine Anamnese erstellt hat. Grundsätzlich werden Langzeittherapien angesetzt, die über vier oder sieben Jahre laufen. Die Therapie über sieben Jahre verspricht eine höhere Effizienz, so der Chefarzt, hinge aber entschieden von der aktiven Mitarbeit des Patienten ab. „Er muss es auch wollen“, hört man ihn immer wieder sagen, wenn man mal durch Zufall dabei ist. „Wenn der Patient nicht will, nützen die besten Therapeuten nichts.“

Jedem Patienten werden wegen eines gemeinschaftlichen Therapieansatzes grundsätzlich mehrere Therapeuten zugeteilt. So gibt es Sporttherapeuten, die sich auf Bewegungstherapien spezialisiert haben, Gestalttherapeuten, die den Patienten die Gelegenheit geben wollen, sich in Plastiken, Bildern oder abstrakter Kunst auszudrücken und Sprachtherapeuten, die darauf abzielen, dass die Patienten lernen, sich ihrer Umgebung mitzuteilen. Aber auch Logopädie steht auf dem Therapieplan, wobei diese in der Regel fachübergreifend Anwendung findet. Und – natürlich gab es auch die Psychotherapeuten, die dafür verantwortlich sind, dass die Patienten im Umgang untereinander ihren psychohygienischen Weg finden können. Zu erwähnen, dass es in Patientenkonstellationen wie diesen natürlich auch Unverträglichkeiten gibt, ist obsolet.

Jeder Patient hat durchschnittlich zwischen fünf und acht Anwendungen am Tag. Gruppentherapien gehören zu den Grundsätzen der Klinik, werden jedoch nicht immer von allen Patienten gleich gut aufgenommen, so dass immer wieder einige die Therapie abbrechen und mitunter in Fachkliniken untergebracht werden.

Die Klassenlehrer fungieren als Oberärzte, die regelmäßig die Befunde zusammenfassen und in der Patientenakte bündeln. Daraus werden wiederum Diagnosen erstellt, die den Fortgang des weiteren therapeutischen Verlaufs bestimmen. Mitunter müssen die Oberärzte familientherapeutische Termine ansetzen, wenn sich abzeichnet, dass einige Symptome des Patienten aus dem unmittelbaren Umfeld, also der Familie, kommen mussten.



„Andreas ...?“ Herrn Krüger passiert es immer wieder, dass er alles um sich herum vorübergehend ausblendet, wenn ihn ein interessanter Gedanke gepackt hat. Und diese Vorstellung, dass Gemeinschaftsklinik über dem Eingang zum Foyer steht, gefiel im außerordentlich gut.

„Was habt ihr gesagt? Wisst ihr“, reagierte er endlich grinsend, „ich hab mir das gerade mal so ein bisschen ausgemalt. Stellt euch mal Folgendes vor ...“

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