Vierte Stunde. Herr Krüger ist
bereits seit einigen Minuten in der Klasse, um Pünktlichkeit vorzuleben und mit
dem Klingeln beginnen zu können. So steht er, als es schellt, startbereit und
demonstrativ vor der Klasse. Seine Siebtklässler kennen ihn mittlerweile,
sodass relativ schnell Ruhe einkehrt und alle für die Begrüßung an ihren
Plätzen stehen. Herr Krüger streift mit seinem Blick alle Schülerinnen und
Schüler und sieht, dass Heidi noch immer an ihrem Platz rumkramt und noch nicht
zur Ruhe gekommen ist. Sie versucht, wie Herr Krüger jetzt sieht, ihre Haare
noch einmal zu bürsten, steckt aber auf ein unmissverständliches Räuspern von
Herrn Krüger Lena ihre Bürste zu, die sie schnell in ihre Tasche schiebt.
„Lena? Ist das deine Bürste?“ Herr Krüger ist irritiert. „Wieso bürstet sich
Heidi ihre Haare mit deiner Bürste?“ „Sie hat ihre vergessen und ich habe ihr
meine geliehen.“ Herr Krüger reißt die Augen auf, während die Blicke der
stehend wartenden Mitschüler zwischen Lena, Heidi und Herrn Krüger wie beim
Tennis hin- und herwandern, darauf lauernd, ob es ein spannendes Match geben
und wie dieses wohl ausgehen wird. Wer von beiden landet einen gezielten
Schmetterball? Doch Herr Krüger ist gar nicht auf ein nervenaufreibendes
Endspiel aus, sondern begnügt sich mit einem verbalen Matchball: „Ich finde es
toll, dass ihr euch so umeinander kümmert, aber ... leiht ihr euch auch
gegenseitig die Zahnbürsten?“ „Iiiiih, nein, natürlich nicht, was denken Sie
denn ...“ Herr Krüger grinst und begrüßt seine Klasse.
Geografie steht mal wieder auf
dem Stundenplan und der Arbeitsauftrag lautet, verschiedene Signaturen aus dem
Atlas zu ermitteln und in eine Umrisskarte von Asien einzuzeichnen. Die Schüler
pfeifen direkt zum nächsten Spiel, indem Sie Herr Krüger zum Online-Portal „gutefrage.net“
umfunktionieren – schließlich fällt
ihnen ‚digitales Denken‘ leichter – und Fragen über Fragen stellen, auch
solche, auf die kaum ein Erwachsener kommen würde. Bereitwillig füttert er Piet,
Natalia, Melanie, Heidi und all die vielen anderen mit den notwendigen
Antworten.
Manchmal ist es aber auch Herr
Krüger, der die Fragen stellt und so muss Marco Rede und Antwort stehen, als
Herr Krüger ihn fragt, warum er das Symbol für Kupfer nicht mit einem
organgefarbenen Buntstift einfärbt, wie es an der Tafel vorgegeben ist, sondern
stattdessen nur mit Bleistift arbeitet. Aber Marco weist kurzerhand auf seinen
Nachbarn: „Anton hat keine Buntstifte mit, deshalb hab ich ihm meine
Federtasche gegeben und mir einen Bleistift von Piet geliehen.“ „Wie, deine
Karte bleibt schwarz-weiß, damit Anton eine farbige hat? Das ist mir echt zu
hoch; es sind aber doch deine Stifte ...?“ Herr Krüger wird zum Nachbartisch
gerufen, wo ihn Natalia anspricht: „Herr Krüger, Jasmin möchte sie etwas
fragen!“ „Ach“, spielt Herr Krüger verwundert, „und du machst für sie als
Bodyguard den Weg frei?“ „Ja, weil sie hat sich nicht getraut zu fragen ...“
Herr Krüger verfolgt auch diesen Gesprächsfaden nicht weiter und leistet Jasmin
Hilfestellung. Selbstverständlich setzt auch Natalia ihre Arbeit aus,
schließlich muss sie mitverfolgen, ob Herr Krüger Jasmin auch angemessen hilft.
Herr Krüger bemerkt dies und guckt sich kurz im näheren Umfeld von Natalia um.
Fünf Augenpaare sind auf die Hilfssituation mit Natalia gerichtet. „Ist das
sooo spannend, was wir hier klären oder warum unterbrecht ihr alle eure Arbeit?
Wollt ihr vielleicht einen Sitzkreis bilden, solange ich mit Jasmin spreche
...?“
Als Herr Krüger seinen Rundgang
durch die Klasse fortsetzt, trifft er Alfons, der sich drei Tische von seinem
eigenen Platz entfernt über den Atlas von Merle beugt. „Ähm ... Alfons, kannst
du mir erklären, wieso du ...“ „Ich sage ihr nur, wie sie die Zeichen richtig
malt ...“ „Und das, obwohl du selbst noch kein einziges Symbol in deine Karte
eingetragen hast?“ fragt Herr Krüger mit einem geübten Blick auf dessen Blatt“,
ich glaub‘ eher nicht ...“ Ertappt trottet Alfons auf seinen Platz zurück, an
dem Herr Krüger seinen Sitznachbarn Marlon dabei beobachtet, wie er
gedankenverloren dem rankenden Efeu, der auf dem Fensterbrett steht, langsam
aber stetig ein Blatt nach dem anderen ausrupft. „Marlon, lass den Efeu leben!
Ich reiße dir ja auch nicht einfach so mal ein oder zwei Ohren ab ... Weißt du
was, du kümmerst dich mal in der Pause um all‘ unsere Pflanzen. Da hinten steht
die Gießkanne, tu mal etwas Gutes und versorge mal unsere grünen Lungen hier!“
Hinter Herrn Krügers Rücken poltert es, weil Samet unmittelbar aufgesprungen
ist, „ich kann das machen ...“ und schon den halben Klassenraum auf dem Weg zur
Gießkanne durchquert hat. Herr Krüger hält ihn fest und schiebt ihn zu seinem
Platz zurück. „Heißt du Marlon?“ „Nein, aber ...“ „Nix da, zurück an die
Arbeit!“
Was ist bloß mit dieser Klasse
los. Soziales Miteinander ist toll, aber ob das in jeder Situation so sinnvoll
ist? Schließlich driftet hier einiges in eine Richtung, bei der Schüler sich
oft ein Eigentor schießen, weil sie sich mehr um die anderen als um sich selbst
kümmern. Im Tierreich nennt man sowas ‚Altruismus‘, denkt Herr Krüger, aber das
gibt’s doch eigentlich vor allem bei staatenbildenden Insekten!? Ob sich diese Klasse
als Insektenstaat sieht? Vielleicht hätte er die Einheit zu den Ameisen in
Biologie doch erst später im Schuljahr durchnehmen sollen ...
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