Montag, 16. Februar 2015

Altruismus

Vierte Stunde. Herr Krüger ist bereits seit einigen Minuten in der Klasse, um Pünktlichkeit vorzuleben und mit dem Klingeln beginnen zu können. So steht er, als es schellt, startbereit und demonstrativ vor der Klasse. Seine Siebtklässler kennen ihn mittlerweile, sodass relativ schnell Ruhe einkehrt und alle für die Begrüßung an ihren Plätzen stehen. Herr Krüger streift mit seinem Blick alle Schülerinnen und Schüler und sieht, dass Heidi noch immer an ihrem Platz rumkramt und noch nicht zur Ruhe gekommen ist. Sie versucht, wie Herr Krüger jetzt sieht, ihre Haare noch einmal zu bürsten, steckt aber auf ein unmissverständliches Räuspern von Herrn Krüger Lena ihre Bürste zu, die sie schnell in ihre Tasche schiebt. „Lena? Ist das deine Bürste?“ Herr Krüger ist irritiert. „Wieso bürstet sich Heidi ihre Haare mit deiner Bürste?“ „Sie hat ihre vergessen und ich habe ihr meine geliehen.“ Herr Krüger reißt die Augen auf, während die Blicke der stehend wartenden Mitschüler zwischen Lena, Heidi und Herrn Krüger wie beim Tennis hin- und herwandern, darauf lauernd, ob es ein spannendes Match geben und wie dieses wohl ausgehen wird. Wer von beiden landet einen gezielten Schmetterball? Doch Herr Krüger ist gar nicht auf ein nervenaufreibendes Endspiel aus, sondern begnügt sich mit einem verbalen Matchball: „Ich finde es toll, dass ihr euch so umeinander kümmert, aber ... leiht ihr euch auch gegenseitig die Zahnbürsten?“ „Iiiiih, nein, natürlich nicht, was denken Sie denn ...“ Herr Krüger grinst und begrüßt seine Klasse.

Geografie steht mal wieder auf dem Stundenplan und der Arbeitsauftrag lautet, verschiedene Signaturen aus dem Atlas zu ermitteln und in eine Umrisskarte von Asien einzuzeichnen. Die Schüler pfeifen direkt zum nächsten Spiel, indem Sie Herr Krüger zum Online-Portal „gutefrage.net“ umfunktionieren  – schließlich fällt ihnen ‚digitales Denken‘ leichter – und Fragen über Fragen stellen, auch solche, auf die kaum ein Erwachsener kommen würde. Bereitwillig füttert er Piet, Natalia, Melanie, Heidi und all die vielen anderen mit den notwendigen Antworten.

Manchmal ist es aber auch Herr Krüger, der die Fragen stellt und so muss Marco Rede und Antwort stehen, als Herr Krüger ihn fragt, warum er das Symbol für Kupfer nicht mit einem organgefarbenen Buntstift einfärbt, wie es an der Tafel vorgegeben ist, sondern stattdessen nur mit Bleistift arbeitet. Aber Marco weist kurzerhand auf seinen Nachbarn: „Anton hat keine Buntstifte mit, deshalb hab ich ihm meine Federtasche gegeben und mir einen Bleistift von Piet geliehen.“ „Wie, deine Karte bleibt schwarz-weiß, damit Anton eine farbige hat? Das ist mir echt zu hoch; es sind aber doch deine Stifte ...?“ Herr Krüger wird zum Nachbartisch gerufen, wo ihn Natalia anspricht: „Herr Krüger, Jasmin möchte sie etwas fragen!“ „Ach“, spielt Herr Krüger verwundert, „und du machst für sie als Bodyguard den Weg frei?“ „Ja, weil sie hat sich nicht getraut zu fragen ...“ Herr Krüger verfolgt auch diesen Gesprächsfaden nicht weiter und leistet Jasmin Hilfestellung. Selbstverständlich setzt auch Natalia ihre Arbeit aus, schließlich muss sie mitverfolgen, ob Herr Krüger Jasmin auch angemessen hilft. Herr Krüger bemerkt dies und guckt sich kurz im näheren Umfeld von Natalia um. Fünf Augenpaare sind auf die Hilfssituation mit Natalia gerichtet. „Ist das sooo spannend, was wir hier klären oder warum unterbrecht ihr alle eure Arbeit? Wollt ihr vielleicht einen Sitzkreis bilden, solange ich mit Jasmin spreche ...?“



Als Herr Krüger seinen Rundgang durch die Klasse fortsetzt, trifft er Alfons, der sich drei Tische von seinem eigenen Platz entfernt über den Atlas von Merle beugt. „Ähm ... Alfons, kannst du mir erklären, wieso du ...“ „Ich sage ihr nur, wie sie die Zeichen richtig malt ...“ „Und das, obwohl du selbst noch kein einziges Symbol in deine Karte eingetragen hast?“ fragt Herr Krüger mit einem geübten Blick auf dessen Blatt“, ich glaub‘ eher nicht ...“ Ertappt trottet Alfons auf seinen Platz zurück, an dem Herr Krüger seinen Sitznachbarn Marlon dabei beobachtet, wie er gedankenverloren dem rankenden Efeu, der auf dem Fensterbrett steht, langsam aber stetig ein Blatt nach dem anderen ausrupft. „Marlon, lass den Efeu leben! Ich reiße dir ja auch nicht einfach so mal ein oder zwei Ohren ab ... Weißt du was, du kümmerst dich mal in der Pause um all‘ unsere Pflanzen. Da hinten steht die Gießkanne, tu mal etwas Gutes und versorge mal unsere grünen Lungen hier!“ Hinter Herrn Krügers Rücken poltert es, weil Samet unmittelbar aufgesprungen ist, „ich kann das machen ...“ und schon den halben Klassenraum auf dem Weg zur Gießkanne durchquert hat. Herr Krüger hält ihn fest und schiebt ihn zu seinem Platz zurück. „Heißt du Marlon?“ „Nein, aber ...“ „Nix da, zurück an die Arbeit!“

Was ist bloß mit dieser Klasse los. Soziales Miteinander ist toll, aber ob das in jeder Situation so sinnvoll ist? Schließlich driftet hier einiges in eine Richtung, bei der Schüler sich oft ein Eigentor schießen, weil sie sich mehr um die anderen als um sich selbst kümmern. Im Tierreich nennt man sowas ‚Altruismus‘, denkt Herr Krüger, aber das gibt’s doch eigentlich vor allem bei staatenbildenden Insekten!? Ob sich diese Klasse als Insektenstaat sieht? Vielleicht hätte er die Einheit zu den Ameisen in Biologie doch erst später im Schuljahr durchnehmen sollen ...

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