Irgendwie bricht sie nicht ab,
die Ereigniskette rund um die Ubiquität des Handys. Herr Krüger dachte, dass er
an der neuen Schule diesen Punkt weitgehend hinter sich lassen kann. Aber nein,
zu früh gefreut. Es ist Freitag, das Wochenende steht vor der Tür und Herr
Krüger hat seinen Dienst bereits für diese Woche abgeleistet, zumindest in der
Schule. Er plaudert im Lehrerzimmer nur noch ein bisschen mit Kollegen, schielt
noch einmal in sein Fach, ob neue Aufgaben verteilt wurden usw.
Als er sich unfern der Tür mit
einer ehemaligen Kollegin, die gerade zu Besuch gekommen ist, unterhält, klopft
es. „Ja bitte?“ Herr Krüger öffnet und sieht in das Gesicht einer unbekannten
Schülerin. „Ist Frau Kluge hier?“ Obwohl Herr Krüger weiß, dass sie nicht da
ist, dreht er sich bereitwillig um, schaut – wie im Straßenverkehr – einmal nach
links, dann nach rechts und noch einmal nach links, muss aber dennoch passen. „Nein,
tut mir leid, sie ist im Moment nicht hier.“ „Wissen Sie, wo sie gerade ist?“
„Nö, muss ich?“ Die Schülerin steht sichtlich unter Stress. „Ich muss sie aber
unbedingt sprechen, wer kann denn wissen, wo sie jetzt ist?“ „Also ich nicht“,
wiederholt Herr Krüger, „eventuell weiß es jemand im Sekretariat ...“ Schwups,
weg ist sie.
„Was die jetzt wohl noch so
Dringendes vor dem Wochenende klären muss ...“ nimmt Herr Krüger das Gespräch
wieder auf!? Doch kaum drei oder vier Sätze später, klopft es erneut – dieses
Mal etwas hektischer. Wieder öffnet Herr Krüger, wieder steht besagter Teenager
vor der Tür, präsentiert sich aber mit einem Gesicht, das stärker durchblutet
ist als gerade eben noch. „Ist Frau Kluge hier?“ „Das hab ich dir doch gerade
gesagt, nein, immer noch nicht. Was ist denn so wichtig, dass du sie unbedingt
in diesem Augenblick sprechen musst?“ „Ja, sie hat nämlich mein Handy ...“ „Ach
sooo ...“ sinkt Herrn Krügers Neugier, „es geht wieder mal ums Handy.“ Herr
Krüger, aber auch die Kollegin, die nun ein zweites Mal auf ihren
Gesprächspartner wartet, wird klar, dass diese Schülerin im Begriff ist zu
hyperventilieren. Die Kollegin kann es sich nicht verkneifen: „Wir haben sie
nicht versteckt, die Frau Kluge.“ Dann dreht sie sich zur Seite und ruft
ergänzend und demonstrativ unterdrückt: „Bleib unten, Katja, ich sag dir, wenn sie
weg ist!“ Leichtgläubig und von ersten Mangelerscheinungen beeinflusst, will
die Schülerin das Lehrerzimmer entern und in die Ecke gucken, in der sie Frau
Kluge vermutet. Herr Krüger kann sie gerade noch aufhalten. „Sie ist nicht da,
glaub es uns doch!“
„Du wirst das Wochenende wohl
ohne dein Handy überstehen müssen“ mischt sich die Kollegin noch einmal ein.
„Versuch’s doch mal in Raum 115, ich glaube, da hatte ein Kollege sie vorhin
gesehen“, rät Herr Krüger. Wieder ist das Mädchen schlagartig verschwunden und
Herr Krüger hört noch, dass sie zu besagtem Raum mittlerweile rennt. „Alles
klar, hoffen wir nicht, dass sie gleich mit einer Panikattacke zurückkommt,
weil sie Frau Kluge dort auch nicht getroffen hat ...“ wendet sich Herr Krüger ein
weiteres Mal an die wartende Kollegin. „Du, ich muss jetzt leider auch langsam
mal zusammenpacken; was man hier immer für Zeit lässt in der Schule ...“
Alles Hoffen half nichts und so
erlebt Herr Krüger, dass Trommeln die Steigerung von hektischem Klopfen ist. Dieses
Mal öffnet Frau Kracht, die kurz zuvor das Lehrerzimmer betreten hat. „Ist Frau
Kluge hier ...?“ hört man das Mädchen japsen. „Nein, Marie“, antwortet Frau
Kracht, die die Schülerin offenbar kennt, „aber was ...“ In diesem Augenblick
klappt Marie zusammen und Frau Kracht kann sie nur noch auffangen. Auch Herr
Krüger und die Besucherkollegin haben den Kollaps mitbekommen und eilen herbei,
um zu helfen. Während Marie in den Armen von Frau Kracht hängt, versucht diese,
ihre Schülerin irgendwo abzusetzen. Herr Krüger schiebt ihr einen Stuhl hin,
sodass das Mädchen schließlich zwischen den beiden Armlehnen hängt.
Ihre Augen bewegen sich hektisch in
ihrem blutleeren Gesicht hin und her. Durch ihren halb geöffneten Mund atmet
sie überdurchschnittlich schnell. „Sie hyperventiliert“, erkennt Frau Kracht,
„besorg mir mal eine kleine Tüte, Andreas“ beauftragt sie Herrn Krüger. „Mein
Handy ... wo bin ich ...“ hört man Marie leise fragen. Jetzt beginnt auch noch
ihr linkes Augenlid zu zucken – ein Tick. Frau Kracht bemerkt, dass Marie
ungesteuerte Phantombewegungen mit ihrem Daumen macht. Offenbar glaubt sie, ihr
Handy in der Hand zu halten und eine Nachricht zu schreiben. „Wie erschreckend,
sowas gibt’s also auch schon“, seufzt Frau Kracht. „Hier, die Tüte.“ Herr
Krüger hat eine Papiertüte aufgestöbert, in der eine Kollegin bisher
verschiedene Wollknäuel aufbewahrt hat. Frau Kracht setzt sie augenblicklich an
Maries Mund. „Komm, atme hier rein, schön langsam, das wird schon wieder ...!“ „Andreas,
hol mal ein Glas Wasser, Marie hat einen ganz trockenen Mund.“ „Ich muss mein
Handy zurückholen ... Frau Kluge ... mir ist schwindelig ...“ hört man Marie
nuscheln. „Jetzt hör mal auf zu reden und atme ... gaaanz langsam.“
In diesem Augenblick betritt Frau
Kluge den Raum. „Was ist denn hier los?“ fragt sie mit einem Blick auf Marie,
die wie ein Schluck Wasser auf einem der gepolsterten Stühle hängt und deren
Beine mittlerweile schlaff auf einen zweiten gebettet wurden. „Marie sucht dich
seit knapp einer halben Stunde, weil du angeblich ihr Handy hast.“
Marie selbst hat mittlerweile
aufgehört zu hyperventilieren und ist in einen apathischen Schockzustand
gefallen. „Das kann doch nicht wahr sein. Ich habe ihr ganz klar gesagt, dass
ich es nicht vor 14 Uhr schaffe, im Lehrerzimmer zu sein und dass sie bis dahin
warten muss, wenn sie ihr Telefon wiederhaben will. Dabei hätte sie es einfach
nur mal in ihrer Handtasche lassen müssen, aber nein ... ach, was rede ich ...
das ist ja nun kein Grund, hier gleich zusammenzuklappen!“
Um die Sache zu beenden und in
der Hoffnung, jetzt nicht durch die mangelhafte Fähigkeit Maries zuzuhören,
noch länger auf ihr Wochenende warten zu müssen, zieht sie Maries Handy aus der
Tasche und legt es ihr in die Hand.
Augenblicklich umfasst Marie wie
einen Handschmeichler ihr Handy, ertastet es von allen Seiten und presst es mit
dem letzten bisschen Kraft, die sie gerade noch hat, an sich. Mittlerweile sind
auch die Soforthelfer aus der Oberstufe eingetroffen, die von der Kollegin
gerufen wurden, die irgendwann gar keine Chance mehr auf das Gespräch mit Herrn
Krüger hatte. Sie legen Marie auf eine Trage und schieben Sie ins
Krankenzimmer.
„Puh, das war ja was ganz Neues. Hat
einer von euch schon mal erlebt, dass jemand so extrem auf die Abwesenheit
seines Handys reagiert? Also, ich noch nicht“, guckt sich Herr Krüger in dem
Grüppchen der Lehrer um, die mittlerweile im Lehrerzimmer angekommen sind.
Allgemeines Kopfschütteln.
Nachdem auch Herr Krüger die
letzten Sachen zusammengepackt hat, schlendert er Richtung Hauptausgang und
läuft den Eltern von Marie in die Arme, die offenbar auch verständigt wurden.
„Entschuldigung, wissen Sie
vielleicht, wo unsere Tochter ist? Sie heißt Marie ...“ „Ja, Sie finden Sie im
Aufwachraum. Machen Sie sich keine Sorgen, sie hatte nur einen akuten Anfalls
von Calamitasie; Sie wissen schon, Verlustangst, die sich auf ein Objekt
bezieht. Sie zeigte massive Mangelerscheinungen, weil sie ihr Handy nicht
unentwegt am Körper trug. Sie hat’s inzwischen zurück, insofern ... aber machen
Sie sich selbst ein Bild, wiegesagt, sie ist im Aufwachraum, alles Gute!“
Ich muss mein Handy haben, meine Mutter liegt im Krankenhaus, meine Oma im Sterben, meine Schwester bekommt ein Baby, mein Vater will mich abholen....Darauf antworten wir nur: Dann sollen sie im Sekretariat der Schule eine Nachricht hinterlassen, kein Problem :).
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