Sonntag, 1. März 2015

Mangelerscheinungen



Irgendwie bricht sie nicht ab, die Ereigniskette rund um die Ubiquität des Handys. Herr Krüger dachte, dass er an der neuen Schule diesen Punkt weitgehend hinter sich lassen kann. Aber nein, zu früh gefreut. Es ist Freitag, das Wochenende steht vor der Tür und Herr Krüger hat seinen Dienst bereits für diese Woche abgeleistet, zumindest in der Schule. Er plaudert im Lehrerzimmer nur noch ein bisschen mit Kollegen, schielt noch einmal in sein Fach, ob neue Aufgaben verteilt wurden usw.
Als er sich unfern der Tür mit einer ehemaligen Kollegin, die gerade zu Besuch gekommen ist, unterhält, klopft es. „Ja bitte?“ Herr Krüger öffnet und sieht in das Gesicht einer unbekannten Schülerin. „Ist Frau Kluge hier?“ Obwohl Herr Krüger weiß, dass sie nicht da ist, dreht er sich bereitwillig um, schaut – wie im Straßenverkehr – einmal nach links, dann nach rechts und noch einmal nach links, muss aber dennoch passen. „Nein, tut mir leid, sie ist im Moment nicht hier.“ „Wissen Sie, wo sie gerade ist?“ „Nö, muss ich?“ Die Schülerin steht sichtlich unter Stress. „Ich muss sie aber unbedingt sprechen, wer kann denn wissen, wo sie jetzt ist?“ „Also ich nicht“, wiederholt Herr Krüger, „eventuell weiß es jemand im Sekretariat ...“ Schwups, weg ist sie.
„Was die jetzt wohl noch so Dringendes vor dem Wochenende klären muss ...“ nimmt Herr Krüger das Gespräch wieder auf!? Doch kaum drei oder vier Sätze später, klopft es erneut – dieses Mal etwas hektischer. Wieder öffnet Herr Krüger, wieder steht besagter Teenager vor der Tür, präsentiert sich aber mit einem Gesicht, das stärker durchblutet ist als gerade eben noch. „Ist Frau Kluge hier?“ „Das hab ich dir doch gerade gesagt, nein, immer noch nicht. Was ist denn so wichtig, dass du sie unbedingt in diesem Augenblick sprechen musst?“ „Ja, sie hat nämlich mein Handy ...“ „Ach sooo ...“ sinkt Herrn Krügers Neugier, „es geht wieder mal ums Handy.“ Herr Krüger, aber auch die Kollegin, die nun ein zweites Mal auf ihren Gesprächspartner wartet, wird klar, dass diese Schülerin im Begriff ist zu hyperventilieren. Die Kollegin kann es sich nicht verkneifen: „Wir haben sie nicht versteckt, die Frau Kluge.“ Dann dreht sie sich zur Seite und ruft ergänzend und demonstrativ unterdrückt: „Bleib unten, Katja, ich sag dir, wenn sie weg ist!“ Leichtgläubig und von ersten Mangelerscheinungen beeinflusst, will die Schülerin das Lehrerzimmer entern und in die Ecke gucken, in der sie Frau Kluge vermutet. Herr Krüger kann sie gerade noch aufhalten. „Sie ist nicht da, glaub es uns doch!“
„Du wirst das Wochenende wohl ohne dein Handy überstehen müssen“ mischt sich die Kollegin noch einmal ein. „Versuch’s doch mal in Raum 115, ich glaube, da hatte ein Kollege sie vorhin gesehen“, rät Herr Krüger. Wieder ist das Mädchen schlagartig verschwunden und Herr Krüger hört noch, dass sie zu besagtem Raum mittlerweile rennt. „Alles klar, hoffen wir nicht, dass sie gleich mit einer Panikattacke zurückkommt, weil sie Frau Kluge dort auch nicht getroffen hat ...“ wendet sich Herr Krüger ein weiteres Mal an die wartende Kollegin. „Du, ich muss jetzt leider auch langsam mal zusammenpacken; was man hier immer für Zeit lässt in der Schule ...“
Alles Hoffen half nichts und so erlebt Herr Krüger, dass Trommeln die Steigerung von hektischem Klopfen ist. Dieses Mal öffnet Frau Kracht, die kurz zuvor das Lehrerzimmer betreten hat. „Ist Frau Kluge hier ...?“ hört man das Mädchen japsen. „Nein, Marie“, antwortet Frau Kracht, die die Schülerin offenbar kennt, „aber was ...“ In diesem Augenblick klappt Marie zusammen und Frau Kracht kann sie nur noch auffangen. Auch Herr Krüger und die Besucherkollegin haben den Kollaps mitbekommen und eilen herbei, um zu helfen. Während Marie in den Armen von Frau Kracht hängt, versucht diese, ihre Schülerin irgendwo abzusetzen. Herr Krüger schiebt ihr einen Stuhl hin, sodass das Mädchen schließlich zwischen den beiden Armlehnen hängt.
Ihre Augen bewegen sich hektisch in ihrem blutleeren Gesicht hin und her. Durch ihren halb geöffneten Mund atmet sie überdurchschnittlich schnell. „Sie hyperventiliert“, erkennt Frau Kracht, „besorg mir mal eine kleine Tüte, Andreas“ beauftragt sie Herrn Krüger. „Mein Handy ... wo bin ich ...“ hört man Marie leise fragen. Jetzt beginnt auch noch ihr linkes Augenlid zu zucken – ein Tick. Frau Kracht bemerkt, dass Marie ungesteuerte Phantombewegungen mit ihrem Daumen macht. Offenbar glaubt sie, ihr Handy in der Hand zu halten und eine Nachricht zu schreiben. „Wie erschreckend, sowas gibt’s also auch schon“, seufzt Frau Kracht. „Hier, die Tüte.“ Herr Krüger hat eine Papiertüte aufgestöbert, in der eine Kollegin bisher verschiedene Wollknäuel aufbewahrt hat. Frau Kracht setzt sie augenblicklich an Maries Mund. „Komm, atme hier rein, schön langsam, das wird schon wieder ...!“ „Andreas, hol mal ein Glas Wasser, Marie hat einen ganz trockenen Mund.“ „Ich muss mein Handy zurückholen ... Frau Kluge ... mir ist schwindelig ...“ hört man Marie nuscheln. „Jetzt hör mal auf zu reden und atme ... gaaanz langsam.“
In diesem Augenblick betritt Frau Kluge den Raum. „Was ist denn hier los?“ fragt sie mit einem Blick auf Marie, die wie ein Schluck Wasser auf einem der gepolsterten Stühle hängt und deren Beine mittlerweile schlaff auf einen zweiten gebettet wurden. „Marie sucht dich seit knapp einer halben Stunde, weil du angeblich ihr Handy hast.“
Marie selbst hat mittlerweile aufgehört zu hyperventilieren und ist in einen apathischen Schockzustand gefallen. „Das kann doch nicht wahr sein. Ich habe ihr ganz klar gesagt, dass ich es nicht vor 14 Uhr schaffe, im Lehrerzimmer zu sein und dass sie bis dahin warten muss, wenn sie ihr Telefon wiederhaben will. Dabei hätte sie es einfach nur mal in ihrer Handtasche lassen müssen, aber nein ... ach, was rede ich ... das ist ja nun kein Grund, hier gleich zusammenzuklappen!“
Um die Sache zu beenden und in der Hoffnung, jetzt nicht durch die mangelhafte Fähigkeit Maries zuzuhören, noch länger auf ihr Wochenende warten zu müssen, zieht sie Maries Handy aus der Tasche und legt es ihr in die Hand.
Augenblicklich umfasst Marie wie einen Handschmeichler ihr Handy, ertastet es von allen Seiten und presst es mit dem letzten bisschen Kraft, die sie gerade noch hat, an sich. Mittlerweile sind auch die Soforthelfer aus der Oberstufe eingetroffen, die von der Kollegin gerufen wurden, die irgendwann gar keine Chance mehr auf das Gespräch mit Herrn Krüger hatte. Sie legen Marie auf eine Trage und schieben Sie ins Krankenzimmer.
„Puh, das war ja was ganz Neues. Hat einer von euch schon mal erlebt, dass jemand so extrem auf die Abwesenheit seines Handys reagiert? Also, ich noch nicht“, guckt sich Herr Krüger in dem Grüppchen der Lehrer um, die mittlerweile im Lehrerzimmer angekommen sind. Allgemeines Kopfschütteln.
Nachdem auch Herr Krüger die letzten Sachen zusammengepackt hat, schlendert er Richtung Hauptausgang und läuft den Eltern von Marie in die Arme, die offenbar auch verständigt wurden.
„Entschuldigung, wissen Sie vielleicht, wo unsere Tochter ist? Sie heißt Marie ...“ „Ja, Sie finden Sie im Aufwachraum. Machen Sie sich keine Sorgen, sie hatte nur einen akuten Anfalls von Calamitasie; Sie wissen schon, Verlustangst, die sich auf ein Objekt bezieht. Sie zeigte massive Mangelerscheinungen, weil sie ihr Handy nicht unentwegt am Körper trug. Sie hat’s inzwischen zurück, insofern ... aber machen Sie sich selbst ein Bild, wiegesagt, sie ist im Aufwachraum, alles Gute!“

1 Kommentar:

  1. Ich muss mein Handy haben, meine Mutter liegt im Krankenhaus, meine Oma im Sterben, meine Schwester bekommt ein Baby, mein Vater will mich abholen....Darauf antworten wir nur: Dann sollen sie im Sekretariat der Schule eine Nachricht hinterlassen, kein Problem :).

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