Sonntag, 22. März 2015

Anonym oder Straßenstrich



Einmal im Jahr begegnen Herrn Krüger auf dem Schulgelände Gestalten, von denen man nicht genau weiß, ob sie sich verlaufen haben. Sie sehen nicht wie normale Schüler aus, auch nicht wie diejenigen, die einen besonders kreativen Kleidungsstil haben. Man hat vielmehr das Gefühl, dass man sich mitten im Kölner Karneval befindet, aber auch das trifft’s nicht, schließlich arbeitet Herr Krüger ja in Berlin.
Das erste Jahr, in dem er diesen Gestalten begegnete, hatte er kurz überlegt, ob er vielleicht die Faschingszeit verpasst hatte, aber nach wenigen Augenblicken war klar, hier hatte er es mit einer besonderen Spezies von Mensch zu tun: Abiturienten.
Seit einigen Jahren haben diese es sich zur Aufgabe gemacht, sich eine Woche lang nach Absprache zu täglich wechselnden Mottos zu kleiden. Die Kategorien werden von Schule zu Schule festgelegt, zeigen aber durchaus Ähnlichkeiten. Herr Krüger hat bisher ‚ganz alt/ganz jung‘, ‚die früheren Jahre‘, ‚im Schlafgewand‘, ‚Anonym‘, ‚Assi‘, und ‚gruselig‘ bewundern dürfen.
Herr Krüger mag diese Wochen irgendwie. Gut, er hat in dieser Zeit noch nicht in einem Abiturjahrgang unterrichtet und hatte demzufolge nicht 25 Greise o. ä. im Unterricht zu sitzen. Er kann also nur von dem sprechen, was er außerhalb des Unterrichts gesehen hat, aber das hat ihm immer Spaß gemacht. Manchmal sind Schüler in diesen Wochen einfach nur bunt und fallen ein bisschen mehr auf als sonst. Manchmal sind sie aber regelrecht ansehnlich und sehen - endlich mal - gut gekleidet aus.
„Hallo Herr Krüger!“ Herr Krüger dreht sich um und erkennt Martin. Die beiden kennen sich seit acht Jahren, einige Jahre hatte Martin bei Herrn Krüger auch Unterricht. Die beiden verstehen sich gut und plaudern zuweilen kurz miteinander, wenn es die Zeit erlaubt. „Hallo Martin, wie läuft die Mottowoche?“ „Sie sehen ja, bestens oder gefalle ich Ihnen nicht? Mit diesen Worten bringt sich Martin in Pose. Er steckt in einem schwarzen Anzug mit einer doppelt geknüpften Jacke, die von seinem dicken Bauch – einem unförmigen Kissen – auseinandergedrückt wird. Wie ein vornehmer Herr aus den 20er Jahren streicht er immer wieder über seinen sorgfältig aufgeklebten, gezwirbelten Oberlippenbart und rückt seinen schwarzen Hut zurecht. Als Krönung seines Outfits stützt er sich elegant mit einem Holzstock ab, der das Gesamtbild seiner Erscheinung abrundet. „Ich muss gestehen, du siehst echt gut aus, Martin, da kann ich nicht widersprechen. Vielleicht sollte es so etwas öfter geben, dass ihr euch verkleidet. Einige haben echt tolle Outfits ausgesucht.“
Eine aufgetakelte, mit Ketten, bunten Tüchern und weiten Umhängen kostümierte, alte-junge Abiturientin passiert die beiden, sodass sich sowohl Martin als auch Herr Krüger nach ihr umdrehen, da sie nicht nur gut verkleidet ist, sondern auch eine Körperspannung und Bewegungen an den Tag legt, die ihr Kostüm perfekt ergänzen. Leicht gebeugt zieht sie eine Kamera aus der Tasche, die an einem Teleskoparm befestigt ist und so aussieht, als würde sie ein Monokel vor ihr Gesicht halten.
„Cool, oder?“ wendet sich Martin Herrn Krüger zu. „Allerdings“, antwortet dieser. Ihr solltet unbedingt Gruppenfotos machen!“ „Es gibt schon ganz viele, aber den ganzen 13. Jahrgang bekommen wir bestimmt nicht zusammen.“ „Na ja, ich muss auch wieder weiter, Martin ... was ist morgen dran?“ „Anonym ...“ „Ich bin gespannt, mach’s gut!“ „Sie auch ... tschüss, Herr Krüger!“
Einen Tag später hat Herr Krüger das Gespräch vergessen und geht wie jede Woche in den Biologieraum. Wie gewohnt beginnt er seinen Unterricht. Als er nach ungefähr 15 Minuten gerade einen Blick in sein Botenbuch wirft, schreckt er vom hysterischen Kreischen seiner Mädchen hoch. Als er aufschaut, bemerkt er gerade noch, wie ein Junge auf seinem Stuhl landet. Er hatte sich so erschrocken, dass er von seinem Stuhl regelrecht ein paar Zentimeter abgehoben hatte. Während die eine Hälfte der Klasse sich von dem Schreck erholt und die andere Hälfte über sie lacht, erfasst Herr Krüger den Grund der Schreckparade. Die ‚anonymen‘ Abiturienten hatten sich unterhalb der Fensterfront versammelt und waren dann gleichzeitig hochgesprungen. Ihre weißen Overalls mit den bleichen Masken sowie das unerwartet plötzliche Auftauchen hatten gewirkt. Noch während der Streich der Abiturienten diskutiert wird, taucht am gegenüberliegenden Oberlicht-Fenster ein weiterer ‚Anonymer‘ auf. „Wie kommen die denn da oben hin?“ ruft ein Mädchen, doch niemand kann antworten, denn in diesem Moment fliegt die Tür auf und sechs anonyme Schüler stürmen den Raum, setzen sich ein paar Sekunden auf freie Plätze oder gruseln die eine oder andere Schülerin an. Der Kreischpegel erreicht ein neues Hoch und auch noch als die wildgewordene Horde wieder den Raum verlassen hat, schlagen die Emotionen der aufgepeitschten Schüler wie Sturmwellen aufeinander und brauchten eine ganze Weile, um sich wieder zu beruhigen.
Als Herr Krüger an diesem Tag nach Hause fährt und ein Gymnasium passiert, machen Mädchen, die am Rande einer Traube von Schülerinnen und Schülern steht, Bewegungen, mit denen sie deutlich machen wollen, dass Herr Krüger langsamer fahren solle. Beim zweiten Hingucken sieht er, dass die Mädchen äußerst leicht und knapp bekleidet sind. ‚Alles klar‘, denkt er sich, ‚die ahmen an dieser Schule heute wohl die leichten Mädchen vom Straßenstrich nach – gewagt, gewagt, aber wenn ihr meint ...‘
Da es Freitag ist, ist die Mottowoche vorbei, aber Herr Krüger ist schon gespannt auf das nächste Jahr!

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