Einmal im Jahr begegnen Herrn
Krüger auf dem Schulgelände Gestalten, von denen man nicht genau weiß, ob sie
sich verlaufen haben. Sie sehen nicht wie normale Schüler aus, auch nicht wie
diejenigen, die einen besonders kreativen Kleidungsstil haben. Man hat vielmehr
das Gefühl, dass man sich mitten im Kölner Karneval befindet, aber auch das
trifft’s nicht, schließlich arbeitet Herr Krüger ja in Berlin.
Das erste Jahr, in dem er diesen
Gestalten begegnete, hatte er kurz überlegt, ob er vielleicht die Faschingszeit
verpasst hatte, aber nach wenigen Augenblicken war klar, hier hatte er es mit
einer besonderen Spezies von Mensch zu tun: Abiturienten.
Seit einigen Jahren haben diese es
sich zur Aufgabe gemacht, sich eine Woche lang nach Absprache zu täglich
wechselnden Mottos zu kleiden. Die Kategorien werden von Schule zu Schule
festgelegt, zeigen aber durchaus Ähnlichkeiten. Herr Krüger hat bisher ‚ganz
alt/ganz jung‘, ‚die früheren Jahre‘, ‚im Schlafgewand‘, ‚Anonym‘, ‚Assi‘, und ‚gruselig‘
bewundern dürfen.
Herr Krüger mag diese Wochen irgendwie.
Gut, er hat in dieser Zeit noch nicht in einem Abiturjahrgang unterrichtet und
hatte demzufolge nicht 25 Greise o. ä. im Unterricht zu sitzen. Er kann also
nur von dem sprechen, was er außerhalb des Unterrichts gesehen hat, aber das
hat ihm immer Spaß gemacht. Manchmal sind Schüler in diesen Wochen einfach nur
bunt und fallen ein bisschen mehr auf als sonst. Manchmal sind sie aber
regelrecht ansehnlich und sehen - endlich mal - gut gekleidet aus.
„Hallo Herr Krüger!“ Herr Krüger
dreht sich um und erkennt Martin. Die beiden kennen sich seit acht Jahren,
einige Jahre hatte Martin bei Herrn Krüger auch Unterricht. Die beiden verstehen
sich gut und plaudern zuweilen kurz miteinander, wenn es die Zeit erlaubt. „Hallo
Martin, wie läuft die Mottowoche?“ „Sie sehen ja, bestens oder gefalle ich
Ihnen nicht? Mit diesen Worten bringt sich Martin in Pose. Er steckt in einem
schwarzen Anzug mit einer doppelt geknüpften Jacke, die von seinem dicken Bauch
– einem unförmigen Kissen – auseinandergedrückt wird. Wie ein vornehmer Herr
aus den 20er Jahren streicht er immer wieder über seinen sorgfältig aufgeklebten,
gezwirbelten Oberlippenbart und rückt seinen schwarzen Hut zurecht. Als Krönung
seines Outfits stützt er sich elegant mit einem Holzstock ab, der das
Gesamtbild seiner Erscheinung abrundet. „Ich muss gestehen, du siehst echt gut
aus, Martin, da kann ich nicht widersprechen. Vielleicht sollte es so etwas
öfter geben, dass ihr euch verkleidet. Einige haben echt tolle Outfits
ausgesucht.“
Eine aufgetakelte, mit Ketten,
bunten Tüchern und weiten Umhängen kostümierte, alte-junge Abiturientin
passiert die beiden, sodass sich sowohl Martin als auch Herr Krüger nach ihr umdrehen,
da sie nicht nur gut verkleidet ist, sondern auch eine Körperspannung und
Bewegungen an den Tag legt, die ihr Kostüm perfekt ergänzen. Leicht gebeugt
zieht sie eine Kamera aus der Tasche, die an einem Teleskoparm befestigt ist
und so aussieht, als würde sie ein Monokel vor ihr Gesicht halten.
„Cool, oder?“ wendet sich Martin
Herrn Krüger zu. „Allerdings“, antwortet dieser. Ihr solltet unbedingt
Gruppenfotos machen!“ „Es gibt schon ganz viele, aber den ganzen 13. Jahrgang
bekommen wir bestimmt nicht zusammen.“ „Na ja, ich muss auch wieder weiter,
Martin ... was ist morgen dran?“ „Anonym ...“ „Ich bin gespannt, mach’s gut!“ „Sie
auch ... tschüss, Herr Krüger!“
Einen Tag später hat Herr Krüger
das Gespräch vergessen und geht wie jede Woche in den Biologieraum. Wie gewohnt
beginnt er seinen Unterricht. Als er nach ungefähr 15 Minuten gerade einen
Blick in sein Botenbuch wirft, schreckt er vom hysterischen Kreischen seiner
Mädchen hoch. Als er aufschaut, bemerkt er gerade noch, wie ein Junge auf
seinem Stuhl landet. Er hatte sich so erschrocken, dass er von seinem Stuhl
regelrecht ein paar Zentimeter abgehoben hatte. Während die eine Hälfte der Klasse
sich von dem Schreck erholt und die andere Hälfte über sie lacht, erfasst Herr
Krüger den Grund der Schreckparade. Die ‚anonymen‘ Abiturienten hatten sich
unterhalb der Fensterfront versammelt und waren dann gleichzeitig hochgesprungen.
Ihre weißen Overalls mit den bleichen Masken sowie das unerwartet plötzliche
Auftauchen hatten gewirkt. Noch während der Streich der Abiturienten diskutiert
wird, taucht am gegenüberliegenden Oberlicht-Fenster ein weiterer ‚Anonymer‘
auf. „Wie kommen die denn da oben hin?“ ruft ein Mädchen, doch niemand kann antworten,
denn in diesem Moment fliegt die Tür auf und sechs anonyme Schüler stürmen den
Raum, setzen sich ein paar Sekunden auf freie Plätze oder gruseln die eine oder
andere Schülerin an. Der Kreischpegel erreicht ein neues Hoch und auch noch als
die wildgewordene Horde wieder den Raum verlassen hat, schlagen die Emotionen
der aufgepeitschten Schüler wie Sturmwellen aufeinander und brauchten eine
ganze Weile, um sich wieder zu beruhigen.
Als Herr Krüger an diesem Tag nach
Hause fährt und ein Gymnasium passiert, machen Mädchen, die am Rande einer
Traube von Schülerinnen und Schülern steht, Bewegungen, mit denen sie deutlich
machen wollen, dass Herr Krüger langsamer fahren solle. Beim zweiten Hingucken
sieht er, dass die Mädchen äußerst leicht und knapp bekleidet sind. ‚Alles
klar‘, denkt er sich, ‚die ahmen an dieser Schule heute wohl die leichten
Mädchen vom Straßenstrich nach – gewagt, gewagt, aber wenn ihr meint ...‘
Da es Freitag ist, ist die
Mottowoche vorbei, aber Herr Krüger ist schon gespannt auf das nächste Jahr!
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