Dienstag, 17. März 2015

Klausur



Wenn Schüler in Klausur gehen, ist das eine ganz eigene Erfahrung, die sich von den üblichen Unterrichtsstunden erheblich unterscheidet. Diese Erfahrung macht Herr Krüger nicht zum ersten Mal, allerdings weitaus bewusster als sonst, da er relativ spontan einen Kollegen vertreten muss.
Ebenso wie sich ehemals Ordensbrüder und Ordensschwestern in einen abgeschlossenen Teil des Klosters zurückgezogen haben, ziehen sich auch 2015 Schüler zurück, wenn auch nur in eine bedingte Abgeschiedenheit. Sie suchen – zwangsläufig und nicht freiwillig – ihr tiefstes Inneres auf und besinnen sich auf ihre Fähigkeiten und das, worauf es in der jeweiligen Klausur ankommt.
Für den heutigen Tag nun wurde Herr Krüger zum Prälaten benannt und steht der Klausur vor. Die 20 Schwestern und Brüder sind allerdings nicht im Schwarz-Weiß-Look der geistlichen Kuttenträger erschienen, sondern in ihrer Alltagskluft. Wie groß die Kluft zwischen den einzelnen Individuen ist, erfährt Herr Krüger nicht, da er die Wissensessenzen der Schüler nur bündelt, nicht jedoch korrigiert. Das wird der Kollege Bruder Klaus übernehmen.
Herrn Krüger bleibt nur der Blick auf die Tische und eifrig schreibende Schüler. In der Oberstufe erlebt man zum Glück selten, dass Schüler sich 89 Minuten zurücklehnen, nachdem sie eine Minute für das Schreiben von Name und Datum aufgebracht haben. Derartiges Verhalten ist zwar in der Regel selten, kommt aber hin und wieder in der Mittelstufe vor.
Stattdessen beobachtet Herr Krüger, wie die Federn über die Blätter fliegen und zusammengetragenes Gedankengut zu Papier bringen. Herr Krüger mag das Amt des Prälaten, zumal sich hier zeigt, was die Schüler schon alles gelernt haben.
Die Wissensergüsse werden nur von kleinen Zwischenmahlzeiten unterbrochen, die sich in Tupperboxen, Aluminiumpapier sowie Frischhaltefolie präsentieren und ein Angebot bereithalten, das von Knäckebrot über Kuchen und Obstsalat bis hin zu Müsliriegeln und Traubenzucker reicht.
Derweil findet vorne am Lehrertisch ein stilles Mikado-Treffen der gängigen Handygrößen statt, die in der Zwischenzeit eifrig Nachrichten Sammeln und zu einem kleinen Belohnungspaket zusammenschnüren. Immer wieder sieht Herr Krüger ein Telefon aufleuchten. Allerdings: Wer schreibt eigentlich zu dieser Zeit Nachrichten? Eltern, die ihr Kind fragen, wie es in der Klausur läuft und ob sie noch Hilfe brauchen? Freunde oder Freundinnen, die dem Adressaten einen Streich spielen wollen? Im Dunklen bekäme dieses kleine Handyturnier durch die Art der Lichtsignale bestimmt noch eine besondere Note. Allerdings – gehen Schüler 2015 ja auf jeden Fall im Hellen in Klausur. Es gibt eben doch einen Unterschied zwischen Klausuren im Mittelalter und Klausuren 2015.

Das Schönste allerdings an alledem ist diese Stille – herrrrlich! Wenn der Regelunterricht nur zu 50 % so leise und nervenschonend wie zu den Klausurzeiten wäre, würde Herr Krüger freiwillig jede Menge Prälatenämter übernehmen. Leider haben Jugendliche, besonders in der Mittelstufe, jeden Tag extrem viele Wörter zur Verfügung. Herr Krüger hat mal im Spiegel die Studie eines Linguisten gelesen, aus der hervorgeht, wie viele Wörter von einzelnen Altersgruppen, Geschlechtergruppen usw. am Tag durchschnittlich gesprochen werden. Die obersten Ränge belegen dabei Frauen und Mädchen, aber auch Jugendliche. In diesen beiden Stunden jedoch: Absolute Stille – na ja, fast Stille, denn natürlich toben vor der Tür die Kids aus den siebten Klassen mächtig umeinander. Aber Herr Krüger blendet das weitgehend aus und – genießt!

Fazit? Prälaten-Tätigkeiten haben positive und negative Aspekte. Positiv ist, dass man sich nicht wie in normalen Vertretungsstunden das Clownskostüm überstreifen und ein Motivationsfeuerwerk veranstalten muss, sondern sich mit dem Austeilen des Klausurmaterials begnügen und die Stille genießen kann.
Negativ ist, dass man an den Raum gefesselt ist, ihn nicht einmal für menschliche Bedürfnisse verlassen kann und nur bedingt die Gelegenheit erhält, etwas zu lesen. Schließlich ist man ja als Prälat zur Aufsicht verpflichtet.

Und was die Schüler betrifft, die ja ‚in Klausur‘ sind: Es gibt zwei Möglichkeiten – Lernen oder Beten!

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