Wenn Schüler in Klausur gehen,
ist das eine ganz eigene Erfahrung, die sich von den üblichen
Unterrichtsstunden erheblich unterscheidet. Diese Erfahrung macht Herr Krüger
nicht zum ersten Mal, allerdings weitaus bewusster als sonst, da er relativ spontan
einen Kollegen vertreten muss.
Ebenso wie sich ehemals
Ordensbrüder und Ordensschwestern in einen abgeschlossenen Teil des Klosters
zurückgezogen haben, ziehen sich auch 2015 Schüler zurück, wenn auch nur in
eine bedingte Abgeschiedenheit. Sie suchen – zwangsläufig und nicht freiwillig
– ihr tiefstes Inneres auf und besinnen sich auf ihre Fähigkeiten und das,
worauf es in der jeweiligen Klausur ankommt.
Für den heutigen Tag nun wurde
Herr Krüger zum Prälaten benannt und steht der Klausur vor. Die 20 Schwestern
und Brüder sind allerdings nicht im Schwarz-Weiß-Look der geistlichen
Kuttenträger erschienen, sondern in ihrer Alltagskluft. Wie groß die Kluft
zwischen den einzelnen Individuen ist, erfährt Herr Krüger nicht, da er die
Wissensessenzen der Schüler nur bündelt, nicht jedoch korrigiert. Das wird der
Kollege Bruder Klaus übernehmen.
Herrn Krüger bleibt nur der Blick
auf die Tische und eifrig schreibende Schüler. In der Oberstufe erlebt man zum
Glück selten, dass Schüler sich 89 Minuten zurücklehnen, nachdem sie eine
Minute für das Schreiben von Name und Datum aufgebracht haben. Derartiges
Verhalten ist zwar in der Regel selten, kommt aber hin und wieder in der
Mittelstufe vor.
Stattdessen beobachtet Herr
Krüger, wie die Federn über die Blätter fliegen und zusammengetragenes
Gedankengut zu Papier bringen. Herr Krüger mag das Amt des Prälaten, zumal sich
hier zeigt, was die Schüler schon alles gelernt haben.
Die Wissensergüsse werden nur von
kleinen Zwischenmahlzeiten unterbrochen, die sich in Tupperboxen,
Aluminiumpapier sowie Frischhaltefolie präsentieren und ein Angebot
bereithalten, das von Knäckebrot über Kuchen und Obstsalat bis hin zu
Müsliriegeln und Traubenzucker reicht.
Derweil findet vorne am
Lehrertisch ein stilles Mikado-Treffen der gängigen Handygrößen statt, die in
der Zwischenzeit eifrig Nachrichten Sammeln und zu einem kleinen Belohnungspaket
zusammenschnüren. Immer wieder sieht Herr Krüger ein Telefon aufleuchten.
Allerdings: Wer schreibt eigentlich zu dieser Zeit Nachrichten? Eltern, die ihr
Kind fragen, wie es in der Klausur läuft und ob sie noch Hilfe brauchen?
Freunde oder Freundinnen, die dem Adressaten einen Streich spielen wollen? Im
Dunklen bekäme dieses kleine Handyturnier durch die Art der Lichtsignale
bestimmt noch eine besondere Note. Allerdings – gehen Schüler 2015 ja auf jeden
Fall im Hellen in Klausur. Es gibt eben doch einen Unterschied zwischen
Klausuren im Mittelalter und Klausuren 2015.
Das Schönste allerdings an
alledem ist diese Stille – herrrrlich! Wenn der Regelunterricht nur zu
50 % so leise und nervenschonend wie zu den Klausurzeiten wäre, würde Herr
Krüger freiwillig jede Menge Prälatenämter übernehmen. Leider haben
Jugendliche, besonders in der Mittelstufe, jeden Tag extrem viele Wörter zur
Verfügung. Herr Krüger hat mal im Spiegel die Studie eines Linguisten gelesen,
aus der hervorgeht, wie viele Wörter von einzelnen Altersgruppen,
Geschlechtergruppen usw. am Tag durchschnittlich gesprochen werden. Die
obersten Ränge belegen dabei Frauen und Mädchen, aber auch Jugendliche. In
diesen beiden Stunden jedoch: Absolute Stille – na ja, fast Stille, denn
natürlich toben vor der Tür die Kids aus den siebten Klassen mächtig
umeinander. Aber Herr Krüger blendet das weitgehend aus und – genießt!
Fazit? Prälaten-Tätigkeiten haben
positive und negative Aspekte. Positiv ist, dass man sich nicht wie in normalen
Vertretungsstunden das Clownskostüm überstreifen und ein Motivationsfeuerwerk
veranstalten muss, sondern sich mit dem Austeilen des Klausurmaterials begnügen
und die Stille genießen kann.
Negativ ist, dass man an den Raum
gefesselt ist, ihn nicht einmal für menschliche Bedürfnisse verlassen kann und
nur bedingt die Gelegenheit erhält, etwas zu lesen. Schließlich ist man ja als
Prälat zur Aufsicht verpflichtet.
Und was die Schüler betrifft, die
ja ‚in Klausur‘ sind: Es gibt zwei Möglichkeiten – Lernen oder Beten!
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