Sonntag, 21. Juni 2015

Papa



Eigentlich sollte es ein ruhiger Tag werden. Herr Krüger hat vor einer Woche einen Test angesagt – in Bio. Und dennoch ist es wie immer: Die meisten sind auf den Test eingestellt, einige fallen aus allen Wolken und versuchen, den Test zu verschieben, indem sie Herrn Krüger zu bequatschen versuchen. Eine Schülerin erklärt, dass sie den Test gar nicht mitschreiben kann, weil sie vor zwei Wochen in zwei Stunden gefehlt habe usw. Selbstverständlich sprechen alle gleichzeitig, während Herr Krüger versucht, die Voraussetzungen für eine Leistungskontrolle herzustellen; Tische umstellen, Schüler umsetzen und so. Kurzum – der übliche Wahnsinn.
Schließlich fällt der Startschuss und Herr Krüger teilt alle Blätter aus, ermahnt zur Ruhe und stellt einen Countdownzähler ein, damit alle Schüler, denen nichts mehr einfällt, wenigstens rückwärts zählen lernen. Ungefähr 30 Sekunden, nachdem die Klasse zur Ruhe und Konzentration gefunden hat, fliegt die Tür auf und Emma kommt hinein und gleichzeitig aus dem Mustopf.
Ganz vorne bekommt sie einen Extraplatz. Doch sie hat noch nicht genug Staub aufgewirbelt. Emma stellt nach ausgiebigem Kramen fest, dass sie keinen schreibenden Stift dabeihat. Der eine und einzige, den sie großzügigerweise in ihre Handtasche gesteckt hat, hat seinen Geist aufgegeben. Eine Schultasche als solche hat auch sie – obwohl noch in Klasse sieben – auch nicht mehr und demzufolge auch keine Federtasche mit Schreibalternativen. Stiftlos dreht sie sich daher um und nimmt halb flüsternd, halb rufend quer durch die Klasse Kontakt mit verschiedenen Schülern auf, um sich einen Stift zu organisieren. Man bietet ihr einen Textmarker, einen Edding, eine blanke Kugelschreibermine und einen stumpfen Bleistift an, wie Herr Krüger mitverfolgt. Kurz bevor Emma den Bleistift als vermeintlich geeignet in Empfang nehmen kann, mischt er sich jedoch ein, zieht mit einem Griff einen Kugelschreiber aus seiner Federtasche und hält ihn Emma hin. Diese steht auf, zieht Herrn Krüger den Stift aus der Hand und will sich wieder setzen. „Hey“, ermahnt sie Herr Krüger, „sag Danke, Papa!“ „Danke, Papa“ wiederholt Emma teils belustigt, teils an irgendwann einmal vernommene Umgangsformen erinnert. Dann endlich ... beginnt auch sie ihren Test zu schreiben.
Herr Krüger lässt seinen Lernkontrollblick über die Köpfe seiner Schüler schweifen und will sich gerade ein bisschen entspannend zurücklehnen, als Emma erneut seine Aufmerksamkeit fordert: „Herr Krüger, haben Sie ein Taschentuch für mich?“ Nach einem kurzen Moment, indem Herr Krüger in sich zusammensackt, greift er erneut zielsicher in seinen Rucksack und streckt Emma die offene Packung hin. „Danke“ will sich Emma wegdrehen. „Wie heißt das?“ hakt Herr Krüger nach? „Danke, Papa!“ kommt wie aus der Pistole geschossen zurück. In den ersten Reihen sieht man mehrere Schüler schmunzeln.
Dann kehrt wieder Ruhe ein. Ob Herr Krüger sich jetzt ein bisschen zurücklehnen kann? Von wegen. Als hätte er nur darauf gewartet, schießt Samet jetzt zum Lehrerpult. „Können Sie für mich schreiben?“ fragt er und hält demonstrativ seine Hand nach oben. Herr Krüger sieht nur kurz hin und nimmt eine anscheinend medizinisch bedingte Verbandkonstruktion wahr. Da Samets Schrift sowieso schon unter normalen Umständen kaum lesbar ist, willigt Herr Krüger ein und übernimmt den Posten des Schreiberlings, indem er alles schreibt, was Samet diktiert. Zuweilen stellen sich dabei krampfartige Zustände bei Herrn Krüger ein, wenn er grammatikalisch gänzlich unverständliche Sätze aufschreiben muss, aber Herrn Krügers Autokorrektur würde mangelnde Fairness gegenüber den anderen Schülern bedeuten. Erst jetzt bemerkt er, dass Samet nur irgendetwas um seinen Finger gewickelt zu haben scheint ... „ich habe einen Bluterguss“ rechtfertigt sich Samet. ‚Och nee‘, denkt Herr Krüger, hat aber keine Lust auf eine Diskussion.
Schließlich ist die Zeit vorbei und Herr Krüger schreibt die letzten Worte im Auftrag von Samet. Als er ihn mit den Worten „und jetzt liest du noch einmal alles Korrektur“ entlässt, grinst Samet Herrn Krüger an und sagt: „Danke, Papa!“

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