Dienstag, 16. Juni 2015

Heile Welt

Guten Morgen, lieber Herr Krüger.“ „Guten Morgen.“ „Hatten Sie ein schönes Wochenende?“ „Oh ja, vielen Dank, ich kann nicht klagen“ antwortet Herr Krüger überrascht über einen solch freundlichen und interessierten Dialog – sogar noch vor Unterrichtsbeginn.
Als es klingelt, stehen alle Schüler ungefragt auf, stellen sich neben den Tisch und lächeln Herrn Krüger erwartungsvoll an. Alle waren pünktlich, keiner muss gesondert aufgefordert oder ermahnt werden. Auch die Begrüßung verläuft diszipliniert und sogar nachdem die Kids Platz genommen haben, beginnen Sie nicht – wie üblich – damit, eine Jahrmarktsituation mit mannigfaltigem Gemurmel zu erzeugen, sondern sehen gespannt nach vorne in der Erwartung auf das, was Herr Krüger sich für die heutige Stunde überlegt hat.
Ich würde gerne zuerst die Hausaufgaben kontrollieren, bitte nehmt sie vor!“ Die Schüler greifen zu ihren Heftern, schlagen die entsprechende Seite auf, drehen die Hefter um, damit Herr Krüger nicht ‚auf dem Kopf‘ lesen muss und warten, dass ihre Hausaufgaben begutachtet werden. Herr Krüger schlägt sein Notenheft auf und checkt die Hausaufgaben. Nach dem ersten halben Dutzend hält er jedoch inne, guckt auf und sich um und fragt in die Runde: „Das ist schon der sechste Schüler mit einer vorbildlichen Hausaufgabe: sorgfältig geschrieben, mit Name und Datum auf dem Blatt, die Überschrift ist bei allen unterstrichen und die Inhalte sind auch gelungen. Hab ich was verpasst? Ist irgendwas passiert? Habt ihr euch abgesprochen?“ Die Schüler lächeln ihn an, schütteln vergnügt den Kopf und Herr Krüger kontrolliert weiter. Das Ergebnis: Alle 26 Schüler haben ihre Hausaufgaben vorbildlich erledigt, korrigierende Hinweise wurden interessiert aufgenommen und sofort verbessert.
Positiv überrascht und hoch motiviert steigt Herr Krüger inhaltlich mit einer Karikatur in den heutigen Stundenschwerpunkt des Unterrichts ein. Normalerweise melden sich drei, nach Aufforderung von Herrn Krüger fünf Schüler, aber heute … fast drei Viertel aller Schüler melden sich und wollen etwas beitragen. Vorbildlich beschreiben Sie zunächst die Karikatur, wie sie das in den Vorstunden gelernt haben, und steigen dann erst in die Interpretation ein, die von interessanten und kreativen Beiträgen gekennzeichnet ist. Herr Krüger fühlt tiefste innere Zufriedenheit, denn all seine Bemühungen scheinen nicht vergeblich gewesen zu sein.
Auch der weitere Unterrichtsverlauf ist erhebend, so viele Faktoren, die Herr Krüger immer und immer wieder in Vorstunden initiiert hat, kommen zum Vorschein. Melinda zickt nicht rum wie sonst, Marco quatscht nicht ständig dazwischen, sogar Piet dreht sich nicht ständig um und lenkt seine Mitschüler ab. Franka malt nicht ständig irgendwelche Bilder und Nadin bürstet sich nicht ständig ihre Haare; auch Handyprobleme gibt es heute keine.
Die Schüler reagieren auf Anweisungen von Herrn Krüger, schlagen problemlos das Buch auf, bearbeiten leise die schriftlichen Aufgaben und auch zum Stundenabschluss sind alle sehr aktiv und motiviert dabei.
Herr Krüger ist total berauscht, blüht gerade für seinen Job mehr auf denn je und will gerade ein riesiges Klassenlob über die Klasse regnen lassen, als plötzlich ein lauter Alarmton ertönt. „Feueralarm?“ fragt Herr Krüger die Klasse.
Aber seine Klasse kann nicht mehr antworten, denn Herr Krüger wacht auf. Es war sein Wecker, der ihn aus seinem Traum geholt hat – leider. An solche Zustände in seinem Unterricht hätte sich Herr Krüger gut gewöhnen können. Er seufzt einmal tief und eilt in die Dusche. Leider bleibt kaum noch Zeit, in seinem Traum von eben zu schwelgen, denn es ist schon 6.30 Uhr und die Zeit bis zur ersten Stunde wird knapp ...

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